1904 -
Dresden [u.a.]
: Müller-Fröbelhaus
- Autor: Wauer, Alwin
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Hilfsbuch, Schülerbuch
- Schultypen (WdK): Volksschule, Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10, Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Volksschule, Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Eydtkuhnen fahren wir ab (a 15). Dieser sonst so unbe-
kannte Ort ist uns gerade recht, weil er nahe an der russi-
schen Grenze liegt und weil wir hier einen der schnellsten
und bequemsten Züge erreichen, den Nord-Expresszug. Das ist
ein teurer Luxuszug. Auf mehr als 150 Mk. Fahrgeld darf es
uns nicht ankommen. An ein Aussteigen ist nicht so leicht
wieder zu denken, und wir müssen darauf sehen, dass während
der Fahrt Speisen verabreicht werden und dass wir, wenn nötig,
eine Schlafstätte erhalten können. Für alles ist in unserm Luxus-
zug gesorgt. — Da braust er heran, von den Gefilden des grossen
russischen Reiches her. Kaum dass er hält, so dampfen wir
auch schon in fliegender Eile ins deutsche Reich hinein. Qual-
mende Rauchwolken verdunkeln die Sonne. Die Maschine pustet
und arbeitet, als wüsste sie, was zu bewältigen ist. Schaufel um
Schaufel voll Kohlen wirft der Maschinist in den Feuerherd. Immer
rasender wird die Schnelligkeit. Die Räder schwirren und donnern
auf den Geleisen. Besorgt versuchen wir hinauszublicken. Aber die
Augen schmerzen. Mit unheimlicher, fast blitzähnlicher Ge-
schwindigkeit fliegen die Telegraphenstangen an uns vorüber.
Uns schwindelt! Nach und nach gewinnen wir Vertrauen und
beginnen in Muße nachzudenken. Es ist gegen 11 Uhr früh.
Das weite, ebene Preussenland liegt im hellen Sonnenglanze.
Wir gewöhnen uns nach und nach daran, die Landschaft zu
mustern. So vergeht uns die Zeit, und wir sitzen geduldig
Stunde um Stunde. Immer die gleiche, rasende Eile. Unter
Donnergetöse jagen wir durch alle kleineren Stationen. Wir
können uns nicht aufhalten. Wir haben ja 1500 km zurück-
zulegen, eine ungeheure Strecke, die auch ein rüstiger Fussgänger
erst in 30 Tagen bewältigen könnte! Mit scheuen, fast ehrfurcht-
erfüllten Mienen stehen die Beamten der Stationen auf ihrem
Posten, ihrer Pflicht und Verantwortlichkeit wohl bewusst. Pferde
scheuen und müssen am Zügel geführt werden. Alles atmet er-
leichtert auf, wenn unser wildkeuchendes Dampfross glücklich
vorüber gebraust. So durcheilen wir stündlich 60 bis 90 km,
Strecken, wozu du Tage gebrauchen würdest. Das sind
tröstliche Gedanken, wenn Stunde um Stunde verrinnt und an
ein Aussteigen noch lange nicht zu denken ist. Wir fangen an
zu staunen und bekommen allmählich Respekt vor der Grösse
eines Kaiserreichs. Da ertönt ein Pfiff, die Bremsen ziehen an.
Wir haben endlich ein Viertel des Weges zurückgelegt. „Schneide-
mühl“ wird gerufen (D 10). Schaffner rennen von Wagen zu
Wagen. Kaum geöffnet, werden die Türen wieder zugeschlagen.
Hier gilt kein Zögern; wir müssen fort, nur fort! Wir wollen
heute noch wenigstens in die Reichshauptstadt gelangen. Schon
neigt sich die Sonne zur Rüste. Es ist 6 Uhr 55 Minuten.
Wieder schnaubt und pustet, tobt und lärmt die Maschine.
Wieder verrinnt Stunde um Stunde. Die Lichter werden ange-
brannt. Wir setzen uns mit Russen, Franzosen und Leuten aus