1867 -
Breslau
: Max
- Autor: Nösselt, Friedrich
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Töchterschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Privatunterricht, Töchterschule
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Mittelalter
- Geschlecht (WdK): Mädchen
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Mittlere Geschichte. 3. Periode. Kreuzzüge.
Indessen waren fast drei Jahre nach dem Aufbruche Gott-
frieds aus seiner Heimath verflossen. Nun aber näherte man sich
unter unaufhörlichen Kämpfen der Stadt Jerusalem. Nach
langen abmattenden Märschen zogen sie eines Tages eine Anhöhe
hinauf, und die zuerst oben anlangten, erblickten plötzlich vor sich
die Zinnen von Jerusalem, das langersehnte Ziel so vieler Lei-
dens „Gott will es haben!" rufen die Glücklichen aus voller,
begeisterter Brust. Die unten noch sind, stürzen nun auch hin-
auf und weiden sich an dem köstlichen Anblicke. „Gott will es
haben!" tönt unaufhörlich, durch die Echos der Felsen verstärkt.
Die stürmische Freude ging bald in tiefe Rührung über. In
Thränen der Andacht gebadet sinken die bewaffneten Pilger auf
die Kniee nieder und küssen den heiligen Boden. Gern wären sie
in die Luft sich erhob und Niemand sich derselben zu nähern vermochte, trat ein
Priester ans und ries die Worte: „Wenn wirklich der allmächtige Gott mit die-
sem Manne von Angesicht zu Angesicht geredet und der heilige Andreas ihm
wachend die heilige Lanze gezeigt hat, dann gehe er unversehrt durch das
Feuer! War aber dieses Trug, dann verbrenne er mit der Lanze, welche er in
seinen Händen tragen wird!" Alle Anwesende riefen mit gebogenen Knieen:
„Amen!" Hierauf kniete Peter, nur mit einem kurzen Gewände bekleidet, vor
dem Bischof von Albara, rief laut Gott zum Zeugen an, daß nichts, was er
von den Erscheinungen der Apostel Peter und Andreas berichtet, von ihm er-
funden worden, flehte um die Vergebung seiner Sünden gegen Gott und seine
Nächsten, und bat den Bischof, alle übrigen Geistlichen und das ganze anwe-
sende Volk, für ihn ihre Gebete mit dem seinigen zu vereinen. Nachdem hierauf
der Bischof die heilige Lanze in seine Hände gelegt und ihn mit dem Zeichen
des heiligen Kreuzes gesegnet hatte, erhob er sich und ging langsamen Schrittes
durch die hochlodernde Flamme. Als Peter aus der Flamme wieder hervortrat,
ohne daß weder seine Kleidung noch das Gewand, welches die heilige Lanze um-
hüllte, versehrt schien, und laut rufend: „Gott hilf!" mit der Lanze dem Volke
den Segen gab, da jubelten Alle, welche der heiligen Lanze sich angenommen
hatten. Aber nach überstandenem Gottesgericht war die Verehrung des Volks
für Peter gefährlicher als das Gottesgericht selbst. Denn über den von der
Flamme schwer verwundeten Mann stürzte mit wüthender Frömmigkeit das
Volk her, riß ihn zu Boden, um seiner Kleider sich zu bemächtigen, und Einige
rissen Fleisch von den Gebeinen des neuen Heiligen. Raimund Pillez und
einige Ritter mußten mit bewaffneter Hand ihn befreien. Andere begnügten sich
damit, Feuerbrände und Kohlen von dem Scheiterhaufen mit sich zu nehmen,
und in wenigen Augenblicken war davon keine Spur mehr vorhanden. Die
Anhänger Raimunds sahen während des Gottesgerichts eine Menge Erschei-
nungen; Peter selbst wollte mitten in den Flammen mit dem Apostel Andreas
sich unterhalten haben. Aber er starb am zwölften Tage nach diesem Gottes-
gericht, sei es von den empfangenen Brandwunden, wie die Gegner der heiligen
Lanze behaupteten, oder in Folge der Mißhandlungen des Volks.