1910 -
Wittenberg
: Herrosé
- Hrsg.: Schreiber, B., Polack, Friedrich, Krämer, J. B., Rockstroh, J., Stier, K., ,
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Ländliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Ii. Das Haus und seine Sitte, die Familie und ihre Glieder.
25. Auf Westfälischer Heide.
1. Wie lauscht, vom Abendschein mn-
die strohgedeckte Hütte, — szuckt,
recht wie im Nest der Vogel duckt,
aus dunkler Föhren Mitte!
2. Am Fensterloche streckt das Haupt
die weißgestirnte Sterke,
bläst in den Abenddnft und schnaubt
und stößt ans Holzgewerke.
3. Seitab ein Gärtchen, dornumhegt,
mit reinlichem Gelände,
wo matt ihr Haupt die Glocke trägt,
aufrecht die Sonnenwende.
4. Und drinnen kniet ein stilles Kind,
das scheint den Grilnd zu jäten;
nun pflückt sie eine Lilie lind
und wandelt längs den Beeten.
5. Am Horizonte Hirten, die
im Heidekraut sich strecken
und mit des Aves Melodie
träumende Lüfte wecken.
6. Und von der Tenne ab und an
schallt es wie Hammerschläge;
der Hobel rauscht, es fällt der Span,
und langsam knarrt die Säge.
7. Da hebt der Abendstern gemach
sich aus den Föhrenzweigen,
und grade ob der Hütte Dach
scheint er sich mild zu neigen.
8. Es ist ein Bild, wie still und heiß
es alte Meister hegten,
kunstvolle Mönche, und mit Fleiß
es auf den Goldgrund legten.
9. Der Zimmermann, — die Hirten
niit ihrem frommen Liede, — sgleich
die Jungfrau mit dem Lilienzweig —
und rings der Gottesfriede;
10. Des Sternes wunderlich Geleucht
aus zarten Wolkenfloren —:
ist etwa hier im Stall vielleicht
Christkindlein heut' geboren?
A. v. Droste-Hülshoff.
26. Ein guter Bater und eine treue Magd.
„Herr Doktor, kommen Sie doch geschwind zu dem Hans im
Enslihof! Er ist von der Leiter abgestürzt und hat sich wohl den Arm
aus der Kugel gefallen."
Mit diesen Worten trat ein schlichtes Dorfmädchen in das Hans des
Wund- und Augenarztes Johann Baptist Pestalozzi am „Rüden-
platz" zu Zürich. Vom Laufen war das Mädchen erhitzt und außer Atem.
„Warte und ruhe ein wenig!" sagte der Arzt freundlich. „Ich
komm' schon mit. Will nur dies fertig machen und mein Verbandzeug
einpacken. Jst's dein Bruder?"
„Ach nein!" war die Antwort. „Ich kam vorbei, als das Un-
glück geschah. Es war niemand weiter daheim; da bin ich gleich
fortgesprungen."
„Brav!" sagte der Arzt und betrachtete mit Wohlgefallen das
wackere Mädchen. „Einer diene dem andern, so werdet ihr das Gesetz
Christi erfüllen."
Während sich der Arzt zur Reise rüstete, sah sich das Mädchen
im Zimmer um. Da gewahrte es in einer Ecke ein Büblein von vier
oder fünf Jahren; das war schwächlich an Gliedern, schwärzlich im
Gesicht und unschön von Gestatt. Aber es schaute ans tiefen, schönen
Augen verwundert aus das fremde Mädchen. Das stand auf, streichelte
ihm das Haar glatt und sagte: „Liebs Büebli, komm, laß dein Wäglein
mal schön laufen!"