1910 -
Wittenberg
: Herrosé
- Hrsg.: Schreiber, B., Polack, Friedrich, Krämer, J. B., Rockstroh, J., Stier, K., ,
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Ländliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): Jungen
Iii. Tages- und Jahrcslauf, Fleiß und Frömmigkeit. 79
diese Zeit des innigsten Zusammenlebens mit der Natur, wo jede
Jahreszeit, jeder Abschnitt des Daseins ganz anders lebhaft empfunden
und genossen wird. Wie oft blickte ich mit wehmütigen Empfindungen
auf meine eigenen Kinder, die im engen, hoch ummauerten Hose unter
meinen Fenstern kaum hin und wieder ein Streifchen Sonnenschein
erhaschten, und denen der verkümmerte Birnbaum mit seinen spär-
lichen Blüten den ganzen Frühling ersetzen mußte. Und wie fremd
war ihnen die Natur, wenn sie Sonntags eimnal hinauskanten auf
die staubige Landstraße oder m irgend einen öffentlichen Garten, wo
das Klappern der Kegelbahnen oder harte Blechmusik den Gesang der
Vögel ersetzte! Ach, alle Kinder sind beklagenswert, deren Jugend
der bunt gemalte Käfig großer Städte umgittert! Wie innig und
sehnsuchtsvoll dringt dagegen auf dem Lande jedes Zeichen des keimen-
den Frühlings in das junge Herz! Wie lieb wird die allbelebende
Sonne, wenn ihre warmen Strahlen allgemach die lang entbehrten
Tummel- und Spielplätze wieder brauchbar machen, und auf dem
hochgelegenen Kirchhofe, dicht am Pfarrhause, der immer zuerst trocken
wird, der Ball wieder an dem altersgrauen Kirchturme hinausfliegt!
Wie klingt es süß, das langgeschweifte Horn des Kuhhirten in der
Morgenfrühe, den die brüllenden Rinder, langsam aus ihren Ställen
und Höfen schreitend, begleiten! Und selbst der langgezogene, gellende
Fingerpfiff des Schäfers mit dem langen, eisenbeschlagenen Stocke und
dem würdevoll ruhig schreitenden Spitz ihm zur Seite, der, wie sein
Herr sagt, verständiger und klüger ist als mancher Mensch, — er ist
Musik in den Ohren der Kinder; dazwischen tönt das Geläute der
Kicchturmglocke und ruft die Dorfjugend zur Schule. Da summen
die Bienen in den Blütenkelchen des.birnbaumes um und über uns
und spielen die frischen Morgenlüfte mit dem jungen, saftigen Laube
der Weinranken. Überall Leben und Lebenslust; denn der Frühling
ist gar zu schön!
Und nun gar der Sonntag, ein Frühlingssonntag!
O Jugenderinnerung, wie steigst du so golden herauf mit solchem
Frühlingsmorgen, wenn die duftberauschten Frühlingswinde sich in den
lichtgrünen Baumkronen schaukeln und die blütenweißen Streifwölkchen
am blauen Himmel so verlockend in die Ferne weiterziehen!
Es ist ein Sonntag-Morgen. Sie wandeln langsam daher aus
der Kirche, in der soeben die letzten Töne des Schlußgesangs ver-
klungen sind, die Dorfbewohner, Männer und Frauen, die Gesang-
bücher unter dem Arme oder in den Händen, alle vorbei dicht an dem
baumumschatteten Pfarrhause, vor dem schon der Wagen wartet, der
den Pfarrer nach den Filialdörfern führen soll, um auch dort die
Herzen mit der Labe des göttlichen Wortes zu erbauen. Ich kenne
sie alle, die treuherzigen, wettergebräunten, von der Arbeit gefurchten
Gesichter der Männer und Frauen, auf die der stille Sonntagsfriede
seinen sänftigenden Widerschein wirft. Hinter dem Garten, da lachen
die Wiesen, da blitzt und flimmert in der Morgensonne der große
von Schilf und Binsen umrandete See mit seinen weißen Wasserlilien.
Da wogen die jungen Roggenfelder wie ein grünes Meer; darunter