1908 -
Wittenberg
: Herrosé
- Autor: Wüster, Karl, Bodesohn, August
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): Jungen
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haben. Jeder bestand auf seinem Rechte. Keiner wich. sondern
alle gruben nach den ersehnten Früchten. Diejenigen, welche
keinen Platz mehr fanden, verdrängten andere, welche glücklicher
gewesen waren. Ls kam zu ernster Prügelei, die schwere Ver-
wundungen, vielleicht sogar den Tod einzelner zur Folge hatte.
Ich habe mir ein Haus gebaut und wohne mit den Meinigen
still und zufrieden in demselben. Da kommt ein anderer herbei-
gezogen. Derselbe hat natürlich noch kein Haus. Er sagt aber:
Ich habe ein Recht zu wohnen, für mich und meine Familie; dies
Haus gefällt mir. Ich will in demselben wohnen. Er war stärker
als ich, und da ich das Haus nicht freiwillig verlieh, hat er mich
mit Gewalt aus demselben vertrieben.
In meiner Fabrik sammeln sich viele Wässer an, die mir
lästig sind. Ich ziehe einen Graben, der bergab geht, und leite
diese überflüssigen Wässer hinein. Sie laufen nun recht rasch
und hübsch ab, so daß ich sie mit einem Schlage los bin. Freilich
laufen sie in das Grundstück meines Nachbars, überschwemmen
dasselbe und verwüsten die Anlagen seines Gartens. Der Nach-
bar will sich natürlich das nicht gefallen lassen; es kommt erst zu
Streit, dann zu böser Feindschaft, schließlich sogar zu ernsten Tätig-
keiten. Denn auch er sagt: ich bin ein freier Mann und kann
machen, was ich will. Deshalb baute er einen tüchtigen Damm,
so daß die Wässer nicht mehr ablaufen konnten und nun mein
Grundstück überschwemmten. Als ich den Damm wegreißen lassen
wollte, wehrte er dies meinen Leuten, und da sich dieselben nicht
um seine Rede kümmerten, vertrieben seine Arbeiter die meinigen
mit Stöcken und anderen Waffen. Es scheint also nicht zu gehen,
daß jeder tun darf, was er will. Es hat eben nicht nur ich, son-
dern jeder einzelne Mensch volle Freiheit und das Recht, zu tun.
was er will. Nur in den ältesten Zeiten verfocht man sein Recht
mit der Faust. Als die Menschen gebildeter wurden, sagten sie
sich, das Recht, welches mein Nebenmensch hat. ist ebensogut, als
mein eigenes Recht, und wenn ich verlange, daß die Leute mein
Besitztum mir lassen und mein Recht ehren, so muß ich auch das
Eigentum der anderen diesen gönnen und deren Recht anerken-
nen. Seitdem die Menschen nach diesem Grundsatz handeln,
ist Ruhe und Frieden auf Erden. Millionen wohnen dicht bei
einander, aber es fällt keinem ein, das Recht seines Nebenmen-
schen zu beeinträchtigen.
Freilich ist richtig, daß es auch heute noch gewalttätige
Menschen gibt, die in ihrem Eigensinn mit roher Tat ihre Rechte
m Anspruch nehmen, selbst wenn sie zehnmal das Eigentum ihrer
Mitmenschen verletzen. Auch solche selbstsüchtige Menschen gibt
es, die mit Hinterlist und Schlauheit das Recht der andern kränken.
Das sind Leute, die unter allen Umstünden ihren Vorteil wahren
und sich auf Kosten der Mitbürger bereichern wollen. Solche Leute
verzichten nicht freiwillig auf die Durchführung ihres Willens.
Der gerecht urteilende Mensch bezeichnet ja solche Handlungen
Bodesohn-Wiister, Lesebuch. 2. Ausl. 4