1905 -
Wittenberg
: Herrosé
- Hrsg.: Scharf, Th., ,
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1900
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Unterrichtsanstalt
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
darauf nach Frankreich gegangen. In Paris hat er erst recht sich
einen feinen Geschmack verschafft. Da er sparsam war und die
Kneipen- und Herbergswirtschaft mied, sparte er sich schon ein schönes
Stück Geld, schickte seinen lieben Eltern regelmäßig Unterstützungen
und ließ keinen Armen ohne eine Gabe, denn er wußte selbst auch,
wie das Hungerbrot schmeckt. In Frankreich behagte ihm die Wirt-
schaft nicht. Er machte sich daher auf die Beine und ging nach
England — das heißt, er ging ans Meer, und dann fuhr er hinüber.
Überall kann man geschickte Leute brauchen, absonderlich in London,
wo man auf ein schönes Kleid etwas hält und es auch nicht knickerig
bezahlt.
Durch seine Geschicklichkeit wurde er Geselle beim Hofschneider
und darauf Obergeselle, nämlich der, der zuschneidet. Er war auch
mittlerweile gewachsen und ein hübscher Mann geworden, der sich nett
kleidete und andere noch netter zu kleiden, besonders aber kleine Natur-
fehler herrlich zu verstecken verstand. Das zieht bei den vornehmen
Leuten, die den Verdruß Haffen.
Nach einigen Jahren starb sein Meister, der Hofschneider, und er
wurde es; ja, der König von England, Georg der Vierte, der auch
ein Freund von schönen Kleidern war, gewann ihn erstaunlich lieb.
In England wie allerwärts drehen sich alle Fahnen nach dem
Winde, der vom Schlosse weht. Der reiche englische Adel wollte nun
auch nur vom Meister Stulz gekleidet sein. Der aber suchte sich fast
lauter tüchtige deutsche Gesellen zu verschaffen; denn die Deutschen
sind in England als die besten Arbeiter bekannt und geliebt. Daher
zieht auch alljährlich eine Menge Bäcker hinein. Der Stulz hielt sich
gut, hatte die feinste und beste Ware, arbeitete nach dem besten und
neuesten Geschmacke und nahm Geld ein über die Maßen, obwohl er
niemals jemand übernahm.
Solange seine Eltern lebten, überhäufte er sie mit Wohltaten, und
gar manche leidende Seele segnete den deutschen Schneider.
Was sagt ihr aber dazu, liebe Leser, wenn ich euch melde, daß
der Georg Stulz aus Kippenheim im Lauf von dreißig Jahren ein
Vermögen erworben hatte, das sich auf mehr als eine Million belief?
Aber es ist wahrhaftig wahr!
Als die fünfzig Lebensjahre hinter ihm lagen, und es bergab
ging, fand er, daß die Lust in England, die feucht, dick und nebelig
ist, seiner Gesundheit schlecht bekam. Er hing Schere und Bügeleisen
an den Nagel und ließ sich in Hperes im südlichen Frankreich nieder,
wo eine gar gesunde Luft ist und Leute, die bei uns schnell an der
Auszehrung sterben würden, noch viele Jahre leben können, weswegen
auch viele reiche Leute hinziehen. Er kaufte sich dort ein fürstliches
Landgut und war ein großer Herr — aber niemals stolz, denn er
erzählte seinen Gästen gar zu gern von seiner Herkunft, seinem Hand-
werk, und wie er sich geplagt.
Daß ihr nun wißt, wie ungeheuer reich er war, ist noch nicht
alles. Die Hauptsache ist, wie er seinen Reichtum anwandte. Ich
habe euch schon erzählt, daß Wohltun sein höchstes Glück war. Es