1905 -
Wittenberg
: Herrosé
- Hrsg.: Scharf, Th., ,
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1900
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Unterrichtsanstalt
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Die 'großen Präsidenten will ich Ihnen an den Fingern einer Hand
herzählen! Sie trachteten nicht nach Kriegsruhm? Fragen Sie in
Frankreich und Amerika an! Ist nicht der mächtige deutsche Kaiser
gerade der Hort des Friedens? Keine Willkürherrschaft? So viel
oder so wenig wie bei unsern Herrschern! Gesetz und Verfassung ziehen
hier wie dort bestimmte Schranken. — Unsere Fürsten sind unser bester
Volksbesitz. Liebe und Vertrauen begleiten sie von der Wiege bis zum
Throne, vom Throne bis zum Sarge. Sie sind die edelste Blüte der
Volksfamilie, unsere Führer und Väter von Gottes Gnaden, kein zu-
fälliges Wahlergebnis auf Zeit. Jede Wahl wühlt die Leidenschaften
auf und lähmt den gesunden Fluß der Arbeit und Entwicklung. Und
das alle 4, 5 oder 7 Jahre? Heißt das nicht die Unruhe zur Regel,
das Parteigezänk zur Tagespolitik machen? Unser König steht über
den Parteien. Allen sucht er gerecht zu werden, soweit das Gesamt-
wohl es gestattet. Er hat nur eine Lebensaufgabe: Als Vater sein
Volk zu beglücken! Von Jugend auf wird er für diesen Beruf erzogen,
durch die besten Lehrer mit den Bedürfnissen seines Volkes und mit
den Mitteln zu deren Befriedigung vertraut gemacht. Ruhig und stetig
wie der Thronwechsel vollzieht sich in Monarchien die Entwicklung,
nicht ruck- und sprungweise wie in vielen Freistaaten. Blicken Sie
nur in den Hexenkessel Frankreich, wo die Parteien ihre Suppen kochen.
Uns lüstet's nicht nach solcher Freiheit und solchem Glück. Unsere
Königsliebe ist unser Glück und unsere Treue die beste Bürgschaft für
staatliches Gedeihen."
„Ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie Ihren König lieben
und verehren!" sagte meine Freundin, „nur will es mir nicht in den
Sinn, daß einer, sei er Kaiser, König, Großherzog, Herzog oder
Fürst, alle Machtfülle erbt, ganz gleich, ob er fähig sei oder nicht!"
„Wollen Sie denn das Erbrecht abschaffen?" fragte ich. „Jedes
Erbe sei uns heilig. Uns ist diese Erbschaft das Natürliche, das
Sichernde, das Gedeihliche. Ist der Monarch nicht der Weiseste,
so kann er doch die Weisesten zu Ratgebern und Dienern berufen.
Dann kommt die Tüchtigkeit doh in den Dienst des Staates und damit
der Volkswohlfahrt. Denken Sie, was wir an einem Stein, einem
Bismarck gehabt haben! Fragen sie doch uns drei Deutsche, ob
wir unzufrieden mit unsern monarchischen Staatseinrichtungen sind?
Ob wir mit den Franzosen oder Amerikanern zu tauschen wünschen?
Nicht einmal mit den Schweizern, die doch die älteste und beste Volks-
regierung und das schönste Vaterland haben!"
„Übrigens/" fuhr der Kaufmann fort, „sind Sie im Irrtum,
wenn Sie meinen, unsere Fürsten könnten willkürlich schalten und walten
wie türkische Sultane. Unsere Pflichten stehen im Gesetz, aber auch
unsere Rechte sind in der Verfassung verbrieft. Verfassung und Gesetz
sind für den König so gut verbindlich wie für den letzten seiner
Untertanen.
„Ja, bei uns in der Schweiz," sagte der Pfarrer, „sind die Gesetze
der Ausdruck des Volkswillens; denn jeder einzelne nimmt teil an der
Gesetzgebung, und die Volksgemeinde entscheidet über alle Gesetzes-