1905 -
Wittenberg
: Herrosé
- Hrsg.: Scharf, Th., ,
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1900
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Unterrichtsanstalt
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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81. Wie hat sich der Betrieb in den Werkstätten
nach den gesetzlichen Bestimmungen zu vollziehen?
An einem herrlichen Sonntage war ich auf dem Wege, um
meinen alten, treuen Freund, den Schreinermeister Karl, wieder
einmal zu besuchen. An der Werkstatt vorüberschreitend, horchte
ich vergebens nach den Werktags gewöhnten Hammerschlägen und
dem Geräusche des Hobels und der Sägen. Feierliche Stille
herrschte heute in den sonst geräuschvollen Räumen. Weder Ge-
sellen noch Lehrlinge waren zu sehen. Mich setzte der ungewohnte
Zustand jedoch keineswegs in Erstaunen; er erschien mir vielmehr
natürlich und recht. Kannte ich doch lange schon meinen ge-
schätzten Freund Karl als einen Mann, der gewissenhaft die gesetz-
lichen Bestimmungen befolgt, die es dem Gewerbetreibenden ver-
bieten, seine Arbeiter an Sonn- und Festtagen zum Arbeiten zu
verpflichten, die ihm nicht erlauben, sie überhaupt zu beschäftigen.
Deshalb ruht an solchen Tagen in allen Werkstätten und Fabriken,
auf allen Bauhöfen und bei allen Bauten die Arbeit.
Herrn Karl fand ich in seinem Zimmer. „Nun, alter Freund,
am schönen Nachmittage so ganz allein zwischen den vier Wänden!“
begrüfste ich ihn herzlich. „Leider kann ich nicht anders,“ war
seine Antwort, „denn der Rheumatismus im rechten Arm fesselt
mich ans Haus. Gross ist mein Bedauern, dass ich heute nicht,
wie meine Gesellen und Lehrlinge, im bergigen Walde umherlaufen,
steigen und nach Herzenslust singen kann, um meine Brust zu
weiten, die Nerven zu stärken, das Gemüt zu erheitern und neue
Kraft für die Anstrengungen der kommenden Woche zu sammeln.“
Freudig stimmte ich zu; denn ich wusste aus eigener Er-
fahrung zu gut, dass nichts mehr erfrischt und stärkt, als die Be-
wegung in würziger Wald- und Bergluft. Neben dem Freunde
hatte ich, seiner Einladung folgend, Platz genommen; ich richtete
an ihn die Frage; „Wie lange lässest du deine Leute feiern?“
„0,“ entgegnete er, „unsere heutigen Arbeiter haben ein
besseres Los, als uns einst beschieden war. Die den Arbeitern zu
gewährende Ruhe dauert für jeden Sonn- und Festtag mindestens
vierundzwanzig, für zwei aufeinander folgende Sonn- und Festtage
sechsunddreifsig, für das Weihnachts-, Oster- und Pfingstfest acht-
undvierzig Stunden. Die Ruhezeit ist von zwölf Uhr nachts zu
rechnen und muss bei zwei aufeinander folgenden Sonn- und Fest-
tagen bis sechs Uhr abends des zweiten Tages dauern.“ „Das ist
eine gute Einrichtung des Staates,“ sagte ich, „da können die
jungen Leute auch regelmässig die Kirche besuchen und dem Herrn
im Himmel geben, was ihm gebührt.“ Der Freund entgegnete
mir: „Ja, in meinem Hause halte ich es so: Der Vormittag ge-
hört dem Gottesdienste, der Nachmittag der wahren Erholung des
Leibes.“ „Dann ist der Sonntag für deine Leute ein Tag des
Segens!“ war meine Antwort, und ich fuhr fort: „Bei aller An-
erkennung der Vorschriften halte ich es doch für nötig, dass Aus-