1891 -
Hildburghausen
: Gadow
- Autor: ,
- Hrsg.: Weidemann, D.
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch, Lehrbuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
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Dorfes Jugend fröhlich bis in die Nacht, unter der Linde
werden Großvater und Großmutter wieder jung und erzählen
ihren Enkeln Geschichten aus der Jugendzeit.
Die Linde ist der Baum des friedlichen Beisammen-
lebens, der süßen Gewohnheit des Daseins, des gesicherten
und geschützten Lebensglücks; sie ist der Baum des Daheim -
seins, der überlieferten Sitte, Ordnung und Zucht. Wenn
diese verletzt wurde, hielt man in früheren Zeiten auch
wohl Gericht unter ihrem Gezweige, wie es unter der
Femlinde zu Dortmund geschah. Wie ein schützender
Genius steht die Linde vor der Kirche, die ja den Frieden
zu verkünden hat, auf dem Schloßplätze der Burg, am
Eingänge und in der Mitte des Dorfes und der Stadt, auf
der Gemarkung des Feldes. Darum hielt man auch ein
Welken und Absterben der Linde für ein schlimmes Zeichen,
das dem Burgherrn und seiner Familie, der Stadt und
ihrem Gemeinwesen drohe. In Iserlohn leben noch heut-
zutage ältere Leute des Glaubens, daß, wenn die letzte der
sieben Linden dieser Stadt fallen werde, die Pest herein-
brechen und den Ort verwüsten werde.
Aber auch auf den Gottesäckern hat dieser Friedens-
bäum seine passende Stelle; er trauert nicht wie die Cyprefse
und Trauerweide, er erfreut, stimmt das Herz mild und
stark. Das Knospen und Grünen der Linde im Frühling,
die reiche Fülle ihres Laubes, ihrer Blüten im Sommer,
die Farbenpracht des welkenden Laubes im Herbste und
dazu die unzerstörbare Kraft des Wachstums durch Jahr-
hunderte hindurch, — sind das nicht herzerfreuende Schrist-
züge des Lebens, von der Hand des allgütigen Schöpfers
selber in das große Buch der Natur geschrieben? Ist es
uns nicht, als wohnte es sich auch auf dem Gottesacker so
heimlich und traut unter den süßduftenden, schattigen
Linden? Der herrliche Baum lebt mit den Menschen, aber
er stirbt nicht mit ihnen; er sieht ihre Geschlechter kommen
und gehen, treibt aus seinen ältesten Zweigen neue Sprossen
und sendet seinen Schatten und Blütenduft weithin über
die Wohnungen der Lebenden und Toten.
Der Samländer baut zu Pfingsten eine Lindenlaube
vor sein Haus, und ist die Zeit des Freudenfestes vorüber,
so bricht er sie ab und baut eine zweite von Weidengezweig.
Die Walachen tragen zu Pfingsten ein Stückchen Linden-
Jtmier Wir. Kindcrsreuud. Hi. Teil. 8