1891 -
Hildburghausen
: Gadow
- Autor: ,
- Hrsg.: Weidemann, D.
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch, Lehrbuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
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zur Lust um das Kloster gepflanzt waren, daher dasselbe
auch „zu unsrer lieben Frauen unter den Linden" genannt
wurde. Die Kirche soll den Frieden verkünden, und den
Menschen aus dem Lärm und Getümmel des Lebens zurück-
führen in die geweihte Stille des Gemütes. Für die
Schlösser der weltlichen Großen mag die stolze Pappelallee
ein willkommener Schmuck sein, und manche reiche Abtei
mag durch diese kerzengerade wie in Parade aufmarschierten
Bäume uns andeuten, daß ihre Herren auch einst weltliche
Große waren. Wie steif und abgemessen steht aber die
Pappel da, und wie geringen Schatten gewährt ihr Baum-
gang! Eine Lindenallee aber ist erquicklich; sie ersetzt fast
den mangelnden Wald und Blumengarten, denn sie schattet
und duftet zugleich. Wenn wir unter Linden wandeln,
atmet sich's noch einmal so leicht, und in der That ist das
gelblichgrüne Licht, in das der blühende Baum sich hüllt,
nicht nur der Blütenentmickelung vor allem günstig, es
findet auch im gelben Lichte die stärkste Abscheidung von
Sauerstoff, von demjenigen Gase statt, das unsere Lebens-
lust ist.
In den wärmeren Gegenden von Südrußland am
Gestade des Schwarzen Meeres gibt es noch ganze Linden-
wälder, und in dem Urmalde, der die verschiedensten Baum-
gattungen mischt, prangt gleichfalls die Linde als edle Zier.
Die Linde wird jedoch am ältesten und stärksten nicht
im Urwalde in der Wildnis, sondern in der Gesellschaft der
Menschen, welche die alten riesigen Zweigen stützen. Unter
den auf deutschen Boden erwachsenen Linden ist die zu
Neustadt am Kocher, wenn auch nicht die schönste, — denn
sie hat durch die Blitze arge Verwüstungen erlitten — so
doch vielleicht die älteste. Ihr Alter mag 700 bis 800
Jahre betragen. Sie muß schon im Jahre 1229 durch
ihre Größe sich ausgezeichnet haben; denn laut der Chronik
ward die zerstörte Stadt Helmbundt bei dieser Linde wieder
aufgebaut und fortan „Neustadt bei der großen Linde"
genannt. Aus dem Jahre 1408 hat sich, ein Gedicht er-
halten, worin es von Neustadt heißt:
Vor dem Thore eine Linde stat,
die siebenundsechzig Säulen hat.
Man hatte nämlich, um die mächtigen Zweige zu
stützen, steinerne Stützpfeiler gebaut, deren Zahl 1832 sich