1903 -
Essen
: Baedeker
- Autor: Heinecke, August
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
292
Die deutsche Auswanderung.
die Seide für den kaiserlichen Hof sowie für die Ahnen- und Götzenopfer
angefertigt wird; denn in Peking werden für Opferzwecke große Mengen von
Seide verbrannt. Statt einer Fabrik hatte ich eine Reihe schmutzstarrender,
dunkler Räume und vorsündflutlicher Webstühle vor mir; aber auf diesen
entstanden vor meinen Augen die herrlichsten Gewebe, welche die Bewunderung
der fremden Gesandten am chinesischen Kaiserhofe erregen.
Trotz der großen Erfindungen, welche die Geschichte den Chinesen des
Altertums zuschreibt, sind die heutigen Bewohner Chinas kein erfindungs-
reiches Volk. Dafür ist ihr Nachahmungsvermögen ungewöhnlich stark aus-
geprägt. In den Großstädten ist die Kleinindustrie fast ganz in die Hände
der Chinesen übergegangen. Zu neuen Kleidern, Wäsche oder Schuhen Maß
zu nehmen, ist indessen nicht ihre Sache. Sobald man ihnen jedoch ein
europäisches Kleidungsstück als Muster mitgibt, verfertigen sie darnach in
kurzer Zeit dasselbe Kleidungsstück zu erstaunlich billigen Preisen. Nur muß
man in kleineren Städten den bezopften Kleiderkünstlern nicht etwa geflickte
Kleider als Muster mitgeben, weil sonst das neue Kleidungsstück gewiß den
gleichen Flicken an der gleichen Stelle aufweisen würde.
Nach E. v. Hesse-Wartegg.
*131. Die deutsche Auswanderung.
1. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts ging die bis dahin blühende
Schmarzwälder Uhrenindnstrie so bedeutend zurück, daß nicht wenige Schwarz-
wälder der Heimat Lebewohl sagten und in der neuen Welt ihr Glück versuchten
(s. Nr. 125). Im fremden Lande nahmen sie die heimische Beschäftigung wieder
ans, und wer hätte ihnen das verargen können? Allein sie erwiesen damit
— ohne es zu wollen — ihren Landsleuten daheim im deutschen Vaterlande
einen schlechten Dienst; denn sie führten in Amerika einen neuen Erwerbs-
zweig ein und die Folge davon war, daß die Nachfrage nach Schwarzwälder
Uhren von Amerika ans sich verringerte. In ähnlicher Weise wurden aus den
Jndustriebezirken des Erzgebirges Weberei, Strnmpfwirkerei, Spitzen- und Spiel-
warenfabrikation nach Amerika verpflanzt, wo diese Erwerbszweige einen solchen
Aufschwung nahmen, daß sie der heimischen Industrie frühere Absatzgebiete ent-
zogen. Infolge der Auswanderung aus den gewöhnlich schwach bevölkerten
Ackerbaugebieten Norddeutschlands werden hier die Arbeitskräfte sehr verteuert,
während die ausgewanderten ländlichen Arbeiter fremden, überseeischen Ländern
zu gute kommen.
Mancher redet zwar der Auswanderung das Wort und sagt: „Wo einer
Platz macht, warten zehn andere auf seine Stelle." Aber man sieht, die Sache
hat doch eine gar ernste Kehrseite, besonders wenn man bedenkt, daß die Aus-
wanderung dem Vaterlande noch manchen andern Schaden zufügt. Das Vater-
land hat für die eingebüßten Arbeitskräfte die Kosten der Erziehung und Aus-
bildung getragen, und außerdem geht das Vermögen der Auswanderer dem
heimatlichen Volksreichtnm verloren. Die 250000 Landsleute, welche in den
Jahren 1884 und 1885 auswanderten, entzogen dem Heimatland an Bargeld
etwa 150 Millionen Mark, an Wehrkraft ungefähr ein Armeekorps und endlich
einen bedeutenden Kapitalwert der Personen an Arbeits- und Steuerkraft. Man