1878 -
Braunschweig
: Vieweg
- Autor: Jütting, Wübbe Ulrich, Vorbrodt, Franz
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch, Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
- Konfession (WdK): offen für alle
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Aus der Fremde.
Winterdecke, aus weichen, weißen Eiderdaunen zusammengenäht, legten sie sich auf
das Feld hin uitb schützten die im Schoße der Erde keimenden Körner und Wür-
zelchen vor dem strengen Winterfrost. Sie selber fühlten weder die erstarrende
Winterkälte, noch den rauhen Nordwind, der über die weiße Schneefläche dahin-
sauste; sie sahen und hörten nichts, denn sie schliefen den langen Winterschlaf.
Die Sonne war weit von ihnen fortgereist, blickte aber doch aus fernem Lande
oft gütig auf die eingeschlafenen kleinen Tröpfe hernieder, und diese wurden dann
schön wie funkelnde Edelsteine und strahlten, als wären sie selber leuchtende Sonnen
und blinkende Sternlein geworden. Wohl ein halbes Jahr lang mochten sie so
in ihrem Schlafe der Erstarrung geschlummert haben, da stieg die liebe Sonne
wieder höher am Himmel auf, kam immer näher heran und ließ durch warme
Frühlingslüfte ihre Ankunft dem ganzen Heere der Wassertropsen melden, die alle
in weißer Uniform unbeweglich auf dem Felde in Reihe und Glied lagerten.
„Stehet auf, ihr Schläfer, und rüstet euch zum Marsch!" — so erscholl der laute
Weckruf, und diese Stimme ward von allen gehört. Munter regten und hurtig
bewegten sich alle, sie warfen das Schneekleid ab, um schneller marschieren zu
können, und nun konnte man wieder die fließenden, nackten Wassertröpflein schauen.
Eine Abtheilung von ihnen senkte sich in die Erde hinab, um den keimenden Körn-
lein einen Labetrunk zu bringen, denn diese hatten lange gedurstet, und wie sie
tranken, wurden sie zusehend größer und stärker und steckten die grünen Köpfchen
aus der Erde hervor. Eine zweite Abtheilung stieg gerade zum Himmel auf,
setzte sich in die großen Wolkenschiffe und segelte mit diesen nach Süden in die
heißen Länder, die sehnlichst nach Regen verlangten. Aber unser kleiner Held war
weder in der ersten Abtheilung, denn er hatte nicht Lust, sich in der Erde zu ver-
bergen, noch in der zweiten, denn er war schon zur Genüge in dem Luftmeer
gesegelt, sondern er stellte sich an die Spitze der dritten Truppe, die jetzt von dem
Acker weg zur Thalrinne hinabzog und hier in langen Zügen in geschlossenen
Gliedern thalabwärts sich bewegte. Die kriegslustigen Tropfen hatten sich zu einem
muthig daherbrausenden, wildschäumenden Gießbach gebildet und sangen freudig:
„Frisch vorwärts zum Meer, frisch vorwärts zum Meer!" Da schallte ihnen,
noch viel lauter, als sie selber sangen, die Antwort von tausendmal tausend Stim-
men entgegen aus einem größeren Bach, der auch des Weges zog und das gleiche
Ziel verfolgte: „Glück auf, ihr Brüder, zur frohen Wanderschaft!" Beide
Heere der Wassertropfen flössen jetzt in eins zusammen. Das war ein Plaudern,
ein Murmeln und Sännen, als immer mehr Tröpstein zusammenkamen und sich
fragten und wieder erkannten und des Wiedersehens freuten! Das Heer der
kleinen Reisenden wuchs mit jeder Minute; immer mehr und mehr Begleiter fanden
sich ein, und wie erstaunten sie, als es plötzlich in ein breites Flußthal ging und
ein starker, breiter, voller Strom stolz seine Wellen ihnen entgegenwälzte. Unser
kleiner Wagehals sprang vor Freude auf die Schultern seiner Kameraden und
eilte über diese hinweg, um der erste zu sein, den prächtigen Strom zu begrüßen.
Dieser war nicht wenig erfreut, zu sehen, wie so viel rüstiges, frisches Volk
in allerlei Bächen ihm zuströmte und seine Macht vermehrte. Die Tröpstein
waren aber nicht wenig stolz darauf, zu einem fo großen Flusse zu gehören, durch
den sie stark wurden, die schwersten Lastschiffe zu tragen! Bald fuhr ein Kahn,