1878 -
Braunschweig
: Vieweg
- Autor: Jütting, Wübbe Ulrich, Vorbrodt, Franz
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch, Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
- Konfession (WdK): offen für alle
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Natur- und Culturleben.
ein Gebirge mit hohen Bergspitzen und Burgen, bald gar, wenn der Wind die Wolken
jagte, ein fliehendes, vom Feinde Verfolgtesheer. Jetzt ergötzte sie sich an den Wolken-
rändern, welche die untergegangene Sonne vergoldet hatte. Nach und nach schwanden
die goldenen Ränder der Wolken, aber Emma stand noch immer sinnend da, als ein
leises Geräusch auf dem Nähtischchen sie aus ihren Träumen weckte. Sie sah sich um,
und ihr Blick fiel auf den Fingerhut, der wie ein Zwerg auf dem hohen Polster dastand.
Es war ihr, als sähe er sie mit seinen vielen, kleinen Augen an, wie wenn er etwas
zu erzählen hätte. Emma lauschte; denn nichts war ihr jetzt so lieb, als eine Geschichte.
Endlich lispelte der Fingerhut vom seidenen Polster herab: „Emma, da jetzt Feier-
stunde ist, so will ich dir die Geschichte meines Lebens erzählen." Augenblicklich setzte
sich Emma still auf ihren Stuhl, um dem Fingerhut aufmerksam zuzuhören. Dieser
fuhr daraus also fort:
„Vor nicht langer Zeit lag ich tief, tief in der Erde in einem langen, dunkeln
Gefängnisse. Ein ganzes Heer von Fingerhüten, die jetzt wohl in alle Welt zerstreut
sein mögen, waren meine Kameraden. Aber keiner konnte zu dem andern kommen,
Jeder mußte für sich bleiben. Wir waren damals noch unansehnliches Eisengestein und
lagen regungslos zwischen den meilenlangen Felswänden unseres Gefängnisses wie
hineingegossen da. Wären wir nicht an's Tageslicht gekommen, wir wären immer
starres Gestein geblieben. Lange, ach! gewiß viele tausend Jahre, mochten wir hier so
dagelegen haben, als wir einstens ein Pochen an der dicken Wand unseres Kerkers
vernahmen. Es war so tactmäßig, wie das Picken der Wanduhr hier in der Stube.
Gern hätte ich erfahren, was das sei; denn obwohl ich damals noch kein Fingerhut
mit vielen Augen war, so war ich doch schon etwas neugierig. Zu Zeiten hörte das
Picken und Pochen auf, aber dann erdröhnte ein gewaltiger Donner, daß wir alle
zitternd zusammenschraken, die Gefängnismauern mit. Das Klopfen kam mit jedem
Tage näher, und eines Tages vernahm ich es ganz dicht vor meinen Ohren. Ehe ich's
mich versah, erdröhnte jener fürchterliche Donner wieder, und zusammen brach ein
Stück von der Wand unseres Kerkers. Frei von den Ketten flog ein Theil von uns,
in einzelne Steine zerstückelt, heraus, ich mit, aber vom Schreck wurde der eine hierhin,
der andere dorthin geworfen. Mir war Hören und Sehen vergangen. Als ich wieder
zur Besinnung kam, sah ich Männer vor mir stehen, die hielten Lampen in der Hand
und waren in Leinwand von schwarzer Farbe gekleidet. Auf dem Kopfe trugen sie einen
grauen Filzhut ohne Krämpen, und einige von ihnen hatten spitze Eisenstäbe und
Hämmer. Der Schein ihrer Lichter machte es so hell, daß ich mich nun auch umsehen
konnte, wo ich denn eigentlich war. Ich lag noch immer unter der Erde, aber in einem
großen hohen Felsenraume, worin ein Haus gewiß Platz gehabt hätte. Meines Gleichen
lagen noch viele auf dem Boden des Felsengewölbes. — Nicht lange, so stellten sich
die schwarzen Männer längs der Felswand auf, das spitze Eisen in der einen Hand,
den Hammer in der andern. Das Klopfen ging von neuem los, indem sie nach dem
Tacte mit dem Hammer auf das Eisen schlugen und dadurch Löcher in die Felswand
bohrten. Als diese tief genug waren, füllten sie dieselben mit Pulver an, verschwanden
plötzlich und versteckten sich in Felsengänge. Einige Augenblicke war es todtenstill; doch
bald blitzte das Pulver auf, und rasch folgte der Donner hinterdrein. Eine Menge
Gefangene prasselten wieder aus ihrem Gefängnisse heraus.
Das ging Tag für Tag so fort. Eines Tages lud uns ein Mann in einen Karren
und fuhr uns in einem unterirdischen Felsengange entlang, der sehr schmal und so
niedrig war, daß sich der Mann etwas bücken mußte. Dieser Gang führte nach einem
andern Gange, der höher und breiter war als der erste. Hier floß Wasser hell und
klar, und auf dem Wasser stand ein Kahn, der uns aufnahm. Der Mann setzte sich
mit seiner Lampe auf uns, und wir fuhren so in dem dunkeln Gange lange Zeit fort.
Du hast neulich hier am Nähtische deiner Gespielin auch von einer Wasserfahrt erzählt,
aber bei meiner Fahrt wäre es dir gewiß etwas unheimlich geworden; denn da unten
blühet kein Vergißmeinnicht an den Wassern, da singt keine Schwalbe, da schwimmt kein
Fischlein munter auf und ab. Dumpf rauschte das Wasser unter dem Kahne, und
stieß er an die Felswände, so dröhnte es hohl wie in einem Grabe. Ich weiß nicht