1912 -
München [u.a.]
: Oldenbourg
- Autor: Kracher, Fritz, Baier, Hans
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Kaufmännische Schule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): Jungen
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155. Eine deutsche Stadt im Mittelalter.
lateinischen Lehrer, einem angesehenen Manne, der vom Rat besoldet
wird. Er hat großen Zulauf von armen Schülern aus der Fremde,
welche bei den Bürgern betteln und durch Almosen erhalten werden.
Die Stadt baut gerade ein schönes Rathaus, zierlich und schmuck-
voll, darin einen Saal für die großen Feste der Stadt und ansehn-
licher Bürger. Aber zwischen Dom und Rathaus ist eine kunstlose
Wasserpfütze mit schwimmenden Enten und daneben steht der
deutsche Dorfbaum, die alte Linde; sie ist dem Bürger Erinnerung an
eine Zeit, wo seine Stadt noch nicht war und wo die Waldvögel
in den Zweigen sangen, auf denen jetzt nur Sperlinge sitzen und
im Winter die Krähen.
Der Morgen wird den Bürgern durch Geläut verkündet und die
Glocken der zahlreichen Gotteshäuser tönen fast den ganzen Tag
hindurch. Ihr Ton ist dem Bürger herzlich lieb; er umklingt ihm
das ganze Leben, wie er seinen Vorfahren getan. Wenn der Heim-
kehrende den Glockenklang seiner geliebten Stadt auf dem Felde
hört, dann hält er still und betet. Darum ehrt er seine Glocken wie
lebende Wesen; er gab ihnen Frauennamen, den großen am liebsten
Anna, Susanna, und er war geneigt ihnen ein geheimnisvolles
Leben anzudichten. Allmählich werden Turmuhren eingeführt.
Bis zu ihnen hat nur das Geläute die neun Tageszeiten der Kirche
gemeldet und daneben das Horn oder die Trompete der Türmer.
Die Sonnenuhr und vielleicht eine große Sanduhr am Rathause
haben am Tage den Verlauf der Stunden gewiesen.
Die Stadt hat ihren Markttag; am Rathause ist die rote Fahne
ausgesteckt. Solange sie hängt, haben die fremden Verkäufer das
Marktrecht. Zu allen Toren ziehen die Landleute der Umgegend
herein, auch die Landbäcker und Metzger, welche an besonderen
Plätzen feilhalten dürfen. Auf Ständen, Tischen in Krambuden
sind die Waren ausgelegt. Aber das Wertvollste war damals in
dunkeln Stuben und Gewölben der großen Kaufherren, in eisernen
Truhen und hinter festem Verschluß aufbewahrt. Nur der Goldschmied
stellte kleine Becherlein und Ketten hinter die grünen Fensterrauten
der Werkstatt, vorsichtig und unter Aufsicht, damit nicht ein fremder
Strolch hineinschlage und mit der Beute entlaufe. An dem Stadttor
wird jeder Wagen, der passieren will, von den Torhütern sorglich
beschaut. Den Karren der Landleute folgen große Frachtwagen.
Ihr Inhalt ist unter einer Leinwanddecke verborgen; es ist wertvolles
Kaufmannsgut, eine schwere Ladung; denn viele Pferde waren
nötig den Wagen fortzuschaffen; bewaffnete Reiter des nächsten
Landesherrn haben ihn geleitet.
So knarren die Wagen und handeln die Menschen, bis die
Marktfahne vom Rathause abgenommen wird oder ein Glöcklein