1912 -
München [u.a.]
: Oldenbourg
- Autor: Kracher, Fritz, Baier, Hans
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Kaufmännische Schule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): Jungen
173. Nishnij-Nowgorod.
387
173. Nishnij-Nowgorod.
Wer von Moskau nach fast endloser Eisenbahnfahrt den großen
Mittelpunkt der inneren Provinzen, die alte Großfürstenresidenz
und berühmte Messestadt Nishnij-Nowgorod 1)l erreicht hat, ist über-
rascht von der Größe und Pracht des durchaus modernen Bahnhofs
mit seinen weiten Hallen und schönen Empfangssälen. Aber hat
er dann diese Eingangspforte hinter sich und schreitet er der Stadt
zu, so ist es bald vorbei mit den modernen Eindrücken und mit ihrer
alten halb barbarischen Pracht steigt die Königin der Messen an
den Hügelufern der Oka und Wolga empor. Hoch über dem Häuser-
meer ragt der Kreml empor mit seinen Türmen, Kuppeln, Kreuzen
und Zinnen, abseits der Altstadt dagegen birgt sich das neue Villen-
Nowgorod mit seinen reizenden Häusern und Kaufmannspalästen
halb versteckt im Grün der waldigen Uferwände. Aber wer fragt
nach der eigentlichen Stadt, wenn er in Nishnij-Nowgorod ist?
Vorausgesetzt wenigstens, daß er Nowgorod zur Messezeit besucht.
Und wiederum, wer geht nach Nishnij-Nowgorod außer zur Messe?
Die Messestadt, die nur einige Monate des Jahres lebt, be-
steht erst seit 100 Jahren; vorher war die große Messe des inneren
Rußlands in Makarjew an der Wolga und noch früher, bis ins
Mittelalter, in Kasan, der alten Tatarenresidenz. Erst 1817 wurde
die Messe nach Nishnij-Nowgorod übertragen und für sie eine
eigne Stadt gebaut. Sie liegt der Altstadt gegenüber am linken
Okaufer und alljährlich vor Beginn der Messe wird eine breite
Schiffsbrücke geschlagen, auf der sich vom Morgengrauen bis in
die Nacht ein Leben entwickelt, wie es vielleicht an keinem zweiten
Punkt der Erde sich so vielgestaltig und bunt wiederholt. Im Juni
wird diese Brücke erbaut, im September abgebrochen, dann liegt
der weite Messeplatz wieder öde bis zum nächsten Jahr, die Hoch-
fluten der Oka und Wolga jagen im Winter darüber hin und nur
die Spitzen der Häuser und die Kuppeln der vielen Meßkapellen
ragen aus den gelben, wirbelnden Fluten empor.
Über die Brücke gelangt man erst in die äußere und dann
jenseits eines Kanals in die innere Budenstadt. Jede ist zusammen-
gesetzt aus etwa 3000 steinernen Verkaufsgewölben, in denen eng-
gedrängt alle Schätze und Herrlichkeiten, die überhaupt in der
Welt und insbesondere im weiten russischen Reiche gefunden und
gefördert werden, in sinnverwirrenden Massen aufgestapelt sind.
Denn das ist auch ein Unterschied zwischen dieser und den übrigen
Messen der Neuzeit, daß in Nowgorod nicht nach Mustern gekauft
wird, sondern jeder Messebesucher seine Einkäufe gleich vom Fleck *)
*) d. h. Nieder-Neustadt (abgekürzt: Nischegorod).
26*