1912 -
München [u.a.]
: Oldenbourg
- Autor: Knörk, Otto, Baier, Hans, Kracher, Fritz
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Kaufmännische Schule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): Jungen
32. Die nute Mutter.
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Zwei Stunden von Colmar, als schon die Sonne sich zu beit
Elsässer Bergen neigte, die Hirten heimtrieben und die Kamine
in den Dörfern rauchten, sahen sie, wie die Soldaten in dem Lager
nicht weit von der Straße haufenweise mit dem Gewehr bei Fuß
standen, die Generale und Obersten aber vor dem Lager mitein-
ander sich unterredeten und eine dabeistehende junge Frau voit
feiner Bildung auf ihren Armen ein Kind wiegte. Die Frau int
Postwagen sagte: „Das ist auch keine gemeine Person, da sie nahe
bei den Herren steht. Was gilt's, der, welcher mit ihr redet, ist
ihr Mann!" Der geneigte Leser fängt bereits an etwas zu merken;
aber die Frau im Postwagen merkte troch nichts. Ihr Mutterherz
hatte noch keine Ahnung, so nahe sie an ihm vorbeigefahren war,
sondern bis nach Colmar hinein war sie still uttd redete nimmer.
In der Stadt im Wirtshaus, wo scholl eiue Gesellschaft an der
Mahlzeit saß und die Reisegefährten sich auch noch hinsetzten, da
war ihr Herz erst recht zwischetr Bangigkeit nnb Hoffnung ein-
geengt, da sie ja jetzt erfahren konnte, ob niemand ihren Sohn kenne,
ob er noch lebe und ob er etwas sei; doch hatte sie nicht den Mut
zu fragen, denn es gehört Herz dazu eine Frage zu tun, wo man
das Ja so gerne hören möchte und das Nein doch möglich ist. Auch
meinte sie, jedermann merke es, daß es ihr Sohlt sei, nach dem
sie frage, und daß sie hoffe, er sei etwas geworden. Ettdlich aber,
als ihr der Diener des Wirtes die Suppe brachte, hielt sie ihn heimlich
am Rocke fest und fragte ihn: „Kennt Ihr nicht einetr bei der Armee
oder habt Ihr nicht von einem gehört so und so?" Der Diener
sagte: „Das ist ja unser General, der im Lager steht; heute hat
er bei uns zu Mittag gegessen", und zeigte ihr den Platz. Aber die
gute Mutter gab ihm wenig Gehör darauf, sondern tneinte, es
sei Spaß. Der Diener ruft den Wirt, der Wirt sagt: „Ja, so heißt
der General." Ein Offizier sagte auch: „Ja, so heißt unser General."
Uttd auf ihre Fragen antwortete er: „Ja, so alt kann er seit:," und
"Ja, so sieht er aus und ist von Geburt eilt Schweizer." Da tonnte
sie sich nicht mehr halten vor inwendiger Bewegmtg uttd sagte:
„Es ist mein Sohtt, den ich suche", und ihr ehrliches Schweizer
Gesicht sah fast ein wenig einfältig aus vor unverhoffter Freude
und vor Liebe und Scham. Denn sie schämte sich vor so üieien Leuten,
daß sie eitles Generals Mutter sein sollte, und konnte es doch nicht ver-
schweigen. Aber der Wirt sagte: „Wenn das so ist, gute Frau, so
laßt herzhaft Euer Reisegepäck von dem Postwagen abladen itnb
erlaubt mir, daß ich morgeu in aller Frühe ein Kaleschlein anspatttten
lasse und Euch hinausführe zu Eurem Herrn Sohn in das Lager."
Am Morgen, als sie in das Lager kam und den General sah,
ja, so war es ihr Sohit und die junge Frau, die gestern mit ihm