1906 -
Leipzig
: Hahn
- Autor: Wehrhan, Karl, Kleineberg, W.
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1901
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde?
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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an der Kette, um den jeder scheu herum ging, sah finster und mürrisch
aus wie immer. Er dachte wahrscheinlich an seinen vornehmen Vetter
draußen in der Heide vor dem Tore, der mit seinem gemauerten Unterbau
und den vier runden, durch Balken verbundenen Säulen hoch in der
Luft meilenweit sichtbar war. Man nannte ihn nicht gern; denn wer
spricht gern vom Hängen? Auch der hölzerne Esel neben dem
Brunnen auf dem Markte streckte seine langen Ohren träumerisch in den
Sonntagsmorgen hinein, wahrscheinlich verwundert, daß seit längerer Zeit
kein Verspotteter auf seinem schmachvollen Nucken gesessen hatte.
Die Glocken läuteten zur Kirche, und die Gläubigen folgten dem
feierlichen Ruse. Ernste Männer, Ratsherren, Sülftneistcr und Hand-
werker in pelzverbrümten Schauben oder in geschonten Leibröcken aus
dunklem Tuch schritten langsam, bedächtig dahin. Geschmückte Frauen
mit gold- und silbergestickten Schapeln und schönen Gürtelketten, an denen
die faltigen, sammetbesetzten Kleider geschürzt waren, und sittsame Jung-
frauen mit niedergeschlagenen Augen, das Gebetbuch in den gefalteten
Händen, wandelten an der Seite der würdigen Eheherren, während Knechte
und Mägde sich ihnen bescheiden anschlossen. Auch im Böttcherhause
durfte nicniand zurückbleiben. Die Tochter ging mit der Mutter voran,
und Meister Henneberg folgte ihnen nüt seinen Söhnen zur benach-
barten Nikolaikirche, die zu Anfang des Jahrhunderts mit Hilfe von
Stiftungen der in ihrer Nähe wohnenden Schiffer und Salztonnenböttcher
erbaut war. Hoch oben im Mittelschiff lief an der Wand unter dem
schließenden Gewölbe ein schmaler, schwindelerregender Gang rundum, der
nur von einem dünnen Eisenstab umzäunt war und der Mönchsgang
hieß. Auf den seitlichen Emporen waren die Wappenschilder der vor-
nehmen Geschlechter in der Gemeinde und unten im Schiff die Sitzreihen
für den Bürger und Handwerker gleichfalls mit den geschnitzten und
gemalten Wappen der Gilden bezeichnet, die hier ihre besümmten Bänke
für die Meister und deren Angehörige hatten. Hier ließ sich auch Meister
Henneberg mit den Seinen nieder, um seinem Gott zu danken.
118. Pfingsten.
Julius Wolff.
Sein schönstes Fest, sein Fest im Freien,
sein Freudenfest begeht das Jahr.
Schmückt Tür und Tor mit grünen Maien,
mit Maien Gräber und Altar!
Stellt Rotdornzweige und Holunder
ins ärmste Armcnstübchen heut!
Das Fest der Zeichen und der Wunder
hat sonnenfunkelnd sich erneut.
Im Blütendufte stehn die Reben,
in allen Stämmen quillt der Saft —
die alte, heil'ge Lust am Leben
flammt wieder auf mit starker Kraft.