1900 -
Essen
: Baedeker
- Autor: Heinecke, August
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde?
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Ein ehrloser Ausreisser muss eingebracht werden. Dreissig Thaler gehören
dem, der den elenden Wicht einfängt!“ Dann kommandierte er zwanzig Sol-
daten zur Verfolgung des Flüchtigen.
Allein die Verfolger nahmen die Sache nicht allzu ernst. Streng und
hart war die Behandlung der Soldaten auch noch zur Zeit Friedrichs des
Grossen, und so war es keine Seltenheit, wenn ein Soldat seiner Fahne untreu
wurde; aber fast ebenso selten gelang es, einem Fahnenflüchtigen auf die
Spur zu kommen.
„Ei, so lauf!“ dachte auch jetzt mancher Verfolger bei sich, „in der
Nacht sind alle Katzen grau. Die dreissig Thaler möchte ich mir wohl gerne
verdienen; aber ebenso gerne spare ich dem armen Teufel das Gassenlaufen.“
So kehrten denn alle Kameraden mit demselben Bescheid zurück: „Herr
Hauptmann, der Deserteur ist entwischt!“ Endlich eilt keuchend noch einer
herbei. Wahrhaftig, er schleppt den Ausreisser hinter sich her, und — sollte
man ’s glauben! — es ist sein leiblicher Bruder! Staunen und Unwillen
malt sich auf den Gesichtern der Kameraden, und als sich der verräterische
Bruder seinen Judaslohn auszahlen lässt, treffen ihn verächtliche und wütende
Blicke. „Schwer Geld!“ sagt der Hauptmann, als er die dreissig Thaler aus-
gezählt hat. „Ja, schwer Geld!“ wiederholt mit gepresster Stimme der Em-
pfänger.
Auf der Stelle wird an dem Deserteur die festgesetzte Strafe vollzogen:
sechsmaliges Gassenlaufen. Dreimal schon ist er durch die heisse Gasse
gerannt, und der blutige Schweifs träufelt ihm vom Leibe. Da tritt sein
Bruder, der Verräter, hervor. „Herr Hauptmann,“ sagt er, „halten ’s zu
Gnaden, wenn der Soldat auch einmal ungefragt ein Wort spricht! Ich bitte
unterthänigst, dass ich die andern drei Gassen für meinen Bruder laufen
darf!“ „Was fällt dir ein?“ herrscht ihn der Hauptmann an; „packt ’s dich
an deiner Seele, du Schelm, dass du deinen eigenen Bruder eingefangen hast?“
„Zu Befehl, Herr Hauptmann!“ antwortet der Soldat, „unser Vater klagte
uns jüngst in einem Briefe seine bittre Not. Durch Krankheit geriet er in
Schulden, und ganzer dreissig Thaler halber wollen ihn die Gläubiger von
Haus und Hof treiben. Wie sollten wir Brüder dem armen Vater helfen?
Lange sannen wir vergeblich hin und her; endlich kam uns ein Ausweg in
den Sinn; „Zahlt man nicht dem dreissig Thaler aus, der einen Deserteur
einbringt? Wohlan, so ehrlos es sein mag, einer von uns muss desertieren;
der andere muss ihn einsangen und mit dem schmachvoll erworbenen Lohne
den armen Vater retten. Doch wer soll schimpflich den Fahneneid brechen?
— — Wer soll schmählich den Bruder verraten?“ — — Wir losten darum
— — — halten ’s zu Gnaden, Herr Hauptmann, das übrige kann jeder
selber erraten.“
Die harten Gesichtszüge des Hauptmanns milderten sich, und leise
zitterte seine Stimme, als er sagte: „Der Ausreisser muss sechsmal Gassen
laufen und du erhältst deinen Lohn; so verlangt ’s die Vorschrift. Doch
hat ’s damit vorläufig noch keine Eile. Ich will den Fall dem König melden.“
So geschah es, und nach wenigen Tagen kam folgender Entscheid vom König
zurück: „Die Bestrafung ist einzustellen. Wer solche Gassen für den Vater
läuft, wird auch für das Vaterland Gassen brechen. Die beiden Brüder sind
Korporale. Friedrich.“
Nach Ernst Scherenberg.