1912 -
Essen Berlin
: Bachmann Baedeker
- Hrsg.: ,, Heinecke, August
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Die Bekämpfung der Tuberkulose.
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„Aber Walter, redete die Mutter dem Sohne, einem hoch aufgeschossenen,
19-jährigen Burschen, zu, „Paul hat doch die schwere Lungenentzündung
durchgemacht, und der Herr Doktor--------" „Ach, der Doktor hat nur Angst,
weil unser Vater an der Schwindsucht gestorben ist. Du meinst, dein Paul
hat vom Vater die Schwindsucht geerbt und ich-----------na, das Trinken!“
Damit brannte sich Walter eine Zigarette an, nahm den Hut und wandte
sich zur Tür. „Du willst wieder fort?“ seufzte die Mutter. — „Wer arbeitet,
muß auch abends sein Vergnügen haben.“ — „Ich gönne dir's ja; aber
denke an deine Gesundheit und an deinen Vater!“ — „Seh’ ich etwa so
aus, als ob mein Vater schwindsüchtig war? Sieh doch diese Muskeln!“
In diesem Augenblick trat der jüngere Bruder ein. „Du hast geweint,
Mutter?“ fragte er, und seine blassen Wangen färbten sich. — „Nicht doch,
Paul, ich meinte nur, dein Bruder möchte mehr um seine Gesundheit besorgt
sein; unser Vater hat doch so früh hinweg gemußt.“ — „Ja, ja,“ erwiderte Paul,
„davon sprach der Herr Doktor draußen in der Walderholungsstätte heute
auch. Denkt euch nur; er hat für mich bei der Landesversicherungsanstalt
den Antrag gestellt, daß ich noch ein Vierteljahr in einer Lungenheilstätte
im Gebirge zubringen soll. „Was!“ stieß Walter hervor, „noch ein ganzes
Vierteljahr keine Arbeit und keinen Lohn?“ Aber die Augen der Mutter
füllten sich mit Tränen: „Paul, so schlimm steht es mit dir?“ fragte sie
besorgt. „Die Sache ist ganz einfach, Mutter. Wir Müllers sind eben be-
sonders empfänglich für Tuberkulose. Diese kleinen Pilzchen sind vermaledeite
Dinger. Ein Lungenkranker befördert sie mit dem Auswurf in hellen Haufen
ans Tageslicht, und nun können sie im Staub der Dielen und Wände wochen-
lang leben, bis sie einmal, vom Luftzug oder vom Kehrbesen aufgewirbelt,
von Kindern und Großen eingeatmet werden. Nicht jeder erkrankt durch
sie; denn sonst würde die ganze arme Menschheit von dieser unheimlichen
Gesellschaft bald überwuchert sein. Aber es gibt auch Menschen, in deren
Lungen oder Mandeln oder Blut sich diese verwünschten Bazillen festsetzen
und ungeheuerlich vermehren. Nach der Lungenentzündung haben sie sich
hier oben in meiner linken Lungenspitze angesiedelt; denn der Herr Doktor
hörte da ein verdächtiges Atemgeräusch; der Husten hörte nicht auf; ich
hatte ständig mit Nachtschweiß zu schaffen und nahm immer mehr ab. Das
bessert sich nun zusehends, seitdem mich der Doktor in die Walderholungs-
stätte geschickt hat; aber nun soll ich mich, sagt er, in der Lungenheil-
anstalt ganz auskurieren.“ — „Gebe Gott, daß es gelingt!“ sagte die Mutter,
„die Gesundheit ist doch die Hauptsache.“ — „Ach was, das Arbeiten und
Geldverdienen ist die Hauptsache !" rief Walter dazwischen. „Mutter, wenn
ich erst wieder gesund bin, arbeite ich für dich und für mich; aber laßt
mich das Fenster öffnen; den Tabaksqualm kann ich nicht vertragen.“ —
„Die Abendluft wird dir doch nichts schaden?“ meinte Frau Müller. _________
„Nein, Mutter, reine Luft ist für mich die beste Medizin; das merke ich in
der Walderholungsstätte.“ — „Ja, die andern Lazarusse da draußen machen
dich erst recht krank,“ warf Walter ein. — „Bewahre, ihr ruhiges Atmen
steckt nicht an; nur das Ansprudeln beim Sprechen, das Anhusten und der
Auswurf sind gefährlich. Aber draußen muß jeder sein Taschentuch vor-