1891 -
München
: Oldenbourg
- Autor: Lehrerinnen-Verein München
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten, Mädchenschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten, Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule, Feiertagsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde?
- Geschlecht (WdK): Mädchen
6. Das Veilchen. 193
und Schneeflocken fallen, und der scharfe Wind fährt durch die
Berge. Blauveilchen hat kein Obdach, keinen Schutz vor dem
bittern Frost. Die hohen Büsche, die im Frühlinge schön weiss
und rot blühten, die Rosen und Weifsdorngesträuche, Buchen
und Haseln haben den ganzen Sommer hindurch in schönen
grünen Blättern geprangt; nun ist ihr Gewand verschossen und
gelb geworden, auch wohl von Würmern und Raupen zerfressen;
da werfen sie, wie reiche, hohe Herren, die alten Kleider stolz
hinweg. Ihre Knospen haben sie mit harten, glänzenden Schalen
umhüllt, sie sind ein guter Schutz gegen den Frost. Das arme,
kleine Veilchen erhält die abgetragenen Sommerkleider der
Büsche als warme Decken im kalten Winter. Mit geborgten
und erbetenen Sachen ist es umhüllt gleich einem Waisenkinde
draussen am Zaun. Doch jetzt kommt der Frühling, und nun
wird das arme Veilchen mit einem Male sehr reich. Unten hat
es viele feine Wurzeln, die trinken Maitrank; niedliche Blätter
breiten sich nach allen Seiten aus, jedes zierlich geformt wie
ein Herz. Adern ziehen durch dasselbe links und rechts, der
Rand ist mit kleinen Zähnen versehen; es ist ein feiner Spitzen-
besatz an seinem neuen Gewände. Auf dünnem Stiele steht die
blaue Blüte keck und lustig wie auf einem Bein, fertig zum
Frühlingstanz in der warmen Luft. Fünf Blütenblätter bilden
die Blüte; fünf Kelchblätter umschliefsen sie von aussen. Aus
blauer Seide sind die ersten; grün ist der Überwurf, und die
übrigen Blätter bilden das Unterkleid von gleicher Farbe. Ein
goldner Schmuck ist vorn auf der Brust, und einen Sporn hat
das untere Blütenblatt gleich einem vornehmen Herrn und Ritter.
Auch der trotzige Bart fehlt ihm nicht; an den Seitenblättern
sitzt ein solcher. Des Veilchens Sporn ist jedoch nicht so grau-
sam als derjenige des Reiters, der das Pferd blutig ritzt; er ist
zart und weich und dient dem Veilchen jetzt in seinem Reich-
tum als Vorratskammer. In den himmelblauen Saal seiner Blüte,
mit seidenen Tapeten geschmückt, führt eine goldene Pforte;
fünf Staubgefäfse und ein Stempel bilden sie; unten ist ein
offenes Thor; dunkle Linien auf hellerem Grunde zeigen den
ankommenden Gästen den Weg zur reichen Tafel. Honigmale
nennt man diese Streifen; denn süsser Honig ist die aufgetragene
Speise. Wunderholde Schmetterlinge flattern im Sonnenschein
als vornehme Prinzen dem Veilchen zu; fleifsige Bienen eilen
summend zu seinem Reichtum; alle schmausen, und doch
Lesebuch für weibliche Fortbildungsschulen. 13