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1. Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen - S. 13

1913 - Leipzig : Hahn
13 12. Die Ueujahrsnachl eines Unglücklichen. Ein alter Mensch stand in der Neujahrsnacht am Fenster und schaute verzweiflungsvoll auf zum unbeweglichen, ewig blühenden Himmel und wieder herab auf die stille, reine, weiße Erde, worauf jetzt niemand so freuden- und schlaflos war wie er. Der Kirchhof lag vor ihm, sein nahes Grab war bloß vom Schnee des Alters, nicht vom Grün der Jugend verdeckt, und er brachte nichts mit aus dem ganzen reichen Leben, nichts mit als Irrtümer, die Brust voll Gift und ein Alter voll Reue. Seine schönen Iugendtage wandten sich heute als Gespenster um und zogen ihn wieder vor den Hellen Morgen hin, wo ihn sein Vater zuerst auf den Scheideweg des Lebens gestellt hatte, der rechts auf der Sonnenbahn der Tugend in ein weites, ruhiges Land voll Licht, in die Heimat der Enge! bringt, und welcher links in die Maulwurfsgänge des Lasters hinabzieht, in eine schwarze Höhle voll heruntertropfenden Gifts, voll zischender Schlangen und finsterer, schwüler Dünste. Ach, die Schlangen hingen um seine Brust und die Gifttropfen auf seiner Zunge, und er wußte nun, wo er war. Sinnlos und mit unaussprechlichem Grame rief er zum Himmel hinauf: „Gib mir meine Jugend wieder! Cd Vater! stelle mich wieder auf den Scheideweg, damit ich anders wähle!" Aber sein Vater und seine Jugend waren längst dahin. Er sah Irrlichter auf Sümpfen tanzen und auf dem Gottesacker er- löschen, und er sagte: „Es sind meine törichten Tage." — Er sah einen Stern aus dem Himmel fliehen und im Falle schimmern und auf der Erde zerrinnen. „Das bin ich", sagte sein blutendes Herz, und die Schlangenzähne der Reue gruben sich tiefer ein in seine Munden. Die Einbildungskraft zeigte ihm schleichende Nachtwandler auf den Dächern, und die Mindmühle hob ihre Arme drohend zum Zer- schlagen auf, und im leeren Totenhause nahm eine zurückgebliebene Larve allmählich seine Züge an. Mitten in seiner Angst floß plötzlich die Musik für das Neujahr vom Turme hernieder wie ferner Kirchengesang. Er wurde sanfter bewegt, er schaute nach dem Himmel und über die weite Erde und dachte an seine Jugendfreunde, die nun, besser und glücklicher als er, Lehrer der Erde, Väter glücklicher Kinder und gesegnete Menschen waren, und er sagte: „Cd ! ich könnte auch, wie ihr, diese erste Nacht des Jahres mit trockenen Augen verschlummern, wenn ich gewollt hätte; ach, ich hätte glücklich sein können, ihr teuern Eltern, wenn ich eure Neujahrswünsche und Lehren erfüllt hätte!" In seinem reuevollen Andenken an seine Iünglingszeit kam es ihm vor, als richte sich die Larve mit seinen Zügen im Totenhause auf; endlich wurde sie in seiner Einbildung zu einem lebendigen
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