1913 -
Leipzig
: Hahn
- Hrsg.: Leipziger Fortbildungsschul-Direktoren und -Lehrern
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1901
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule, Fachschule, Gewerbeschule
- Regionen (OPAC): Dresden
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): Jungen
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leine mitgenommen, die auf der Landstraße von Baum zu Baum gebunderr
wurde. Die ganze Gesellschaft, groß und klein, mußte sich hinter dieser
Barriere aufstellen und geduldig verharren. Nur die beiden Lehrer, der
Hauptlehrer mit der uns wohlbekannten, dicken Taschenuhr in der Hand,
wagten es, die Landstraße zu betreten und hinauszublicken in die Ferne,
wo der Zug herkommen sollte. Unsere Herzen pochten vor Neugier und
Wundersucht. Die Unruhigen drängten dermaßen vorwärts, daß schier die
ausgezeichnete Waschleine hätte zerreißen können, wenn nicht die Schul-
meisterin mit dem Röhrchen ihres Gatten die Mutwilligsten von uns iu
Respekt gehalten hätte. Da, richtig — es war wirklich „auf die Minute",
wie unser Lehrer zu Ehren der königlichen Schnellpost und seiner guten
Taschenuhr noch wochenlang nachher versicherte — da erhob sich eine
Staubwolke auf der Landstraße I Die Lehrer stürzten eiligst hinter unsere
Barriere und nahmen die Hüte ab, wir Kinder nebst Begleitung des-
gleichen. Und sie kam näher und näher. Wir schwenkten die Mützen
und schrien vor Begeisterung unser „Hoch und Hurra!" aus vollster
Kehle. Sie flog vorüber! Ein Hauptwagen und ein Beiwagen und ein
Staubwirbel hinterher! Da war denn kein Halten mehr! Wir drängten
vor, um ihr nachzusehen, und — die gute, alte Waschleine war mitten
durchgerissen I
Die Schulmeisterin wollte eben mit dem Röhrchen auf uns losfahren,
aber unser Lehrer wehrte freundlich ab. Bei solchen merkwürdigen Er-
eignissen müsse man mit der Jugend Nachsicht haben.
In der Tat machte der Anblick auf uns den Eindruck der rasendsten
Geschwindigkeit. Die Begeistertsten von uns behaupteten, daß die Schnell-
post mit acht, zehn, zwölf Pferden vorübergesaust sei. Unser Schulmeister
belehrte uns, daß es wirklich nur vier Pferde am Hauptwagen und zwei am
Beiwagen gewesen wären; aber die Schnelligkeit wäre so groß, daß alles
doppelt erschienen wäre. Auch er selber hätte darauf schwören mögen,
daß er mehr als vier Pferde gesehen habe.
Als wir uns ordnungsvoll auf dem Heimwege wieder unserer guten
Stadt näherten, kamen uns der Gendarm und der Stadtwachtmeister ent-
gegen und verkündeten uns, daß sie lange, lange schon wieder fort sei. —
„Das geht zu weit", sagte der letztere und schüttelte bedenklich den Kopf.
„Vom Revidieren der Pässe", setzte sein Begleiter hinzu, „kann gar nicht
mehr die Rede sein! Wohin das noch kommen wird, mag der liebe Gott
wissen!" Unser braver Lehrer meinte zwar: „Solche Herren, welche die
königliche Schnellpost aufnimmt, haben sicher jeder seinen guten Paß
in der Tasche; darauf kaun man sich wohl verlassen", aber der Herr
Stadtwachtmeister schüttelte so sehr den Kopf, daß wir wohl sahen, er
traue selbst der Schnellpost nicht.
Wer da meint, daß die durch das Land dahinsausende Schnellpost
die Vorläuferin und Fürsprecherin der Eisenbahn gewesen sei, befindet
sich in einem schweren historischen Irrtume. Sie war im Gegenteil die
abgesagte Feindin dieser unerhörten Neuerung. Der Generalpostmeister
Nagler wies mit Selbstbewußtsein auf sein Werk hin und fragte erstaunt,