1913 -
Leipzig
: Hahn
- Hrsg.: Leipziger Fortbildungsschul-Direktoren und -Lehrern
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1901
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule, Fachschule, Gewerbeschule
- Regionen (OPAC): Dresden
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): Jungen
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ein „Brief aus Amerika", der ein Gegenstand des Staunens, der Ber-
Wunderung, ja der Ehrfurcht war. Das beängstigend dünne Ding —
man konnte mit einigem guten Willen ganz bequem den Inhalt als Spiegel-
schrift lesen, denn die letzte Seite des durchsichtigen Bogens bildete zugleich
den Briefumschlag — war auf beiden Testen mit verschiedenfarbigen
Stempeln so dicht bedeckt, daß aus den Kreisen, Ziffern und Buchstaben
nur mühsam die Adresse herausbuchstabiert werden konnte.
Besagter wunderbarer Brief meldete den Tod eines Erbonkels in
Amerika. Der Brief hatte volle neun Monate gebraucht, um von einer
Hafenstadt im Golf von Mexiko nach unserem deutschen Heimatstädtchen
zu gelangen. Wegen dieses Zeitverlustes entstand daher, nachdem der
Schmerz um den „sehr entfernten Onkel" sich gelegt hatte, große Unruhe;
denn laut des Briefes sollte mit diesem zugleich die Erbschaft in Gestalt
von etlichen Päckchen Goldstaub und zwei silberbeschlagenen Doppelpistolen
abgeschickt worden sein. Das hohe Porto war seufzend, aber doch in
einer gewissen Hoffnungsfreudigkeit mit 1 Taler und 19 Guten Groschen
bezahlt worden. Jetzt ward ein langer und ausgiebiger Familienrat
gehalten, bei dem der verheißungsvolle Brief aus Amerika eine große
Rolle spielte und der mit der Aussetzung und Absendung eines ebenso
energisch wie untertänig gehaltenen Briefes an die weise und löbliche
Regierung des Freistaates Mexiko endigte. Darauf warteten wir abermals
zwei volle Jahre, um endlich einen zweiten Brief, ganz ähnlich dem ersten,
einlaufen zu sehen, der diesmal wirklich in Begleitung einer Kiste ankam,
enthaltend etwas abgetragene Wäsche, einen Pistolengürtel, einen asten
Basthut und ein Tagebuch. Da seufzte die Mutter vor der offenen Kiste
und sagte: „Ja, wären nur die Postverbindungen gut genug, dann hätten
die mexikanischen Diebe nicht Zeit gehabt, das Beste für sich zu nehmen",
und der Vater antwortete: „Bedenke doch die ungeheure Entfernung, es
sollen mehr als 6000 Seemeilen sein bis Mexiko, da geht vieles verloren,
und manches bleibt unterwegs hängen." Damit war die Geschichte mit
dem amerikanischen Briefe und dem Erbonkel erledigt.
Was würden wir heute tun, wenn uns ähnliches begegnete? Ja,
so etwas geschieht eben nicht mehr; denn „die Postverbindungen sind jetzt
gut genug", wie die Mutter sagen würde.
In der Tat, es kann nicht mehr geschehen, daß ein Brief von
Wesündien nach Deutschland neun Monate braucht, selbst nicht, wenn
Sturm und Wogen Verzögerung schaffen, vorausgesetzt, daß der Post-
dampfer selbst nicht untergeht. Fast nach und von allen Ländern der
Erde kann man seine Briefe um 20 Pfennig oder den entsprechenden
Betrag in ftemder Münze versenden, und selbst wo dieser niedere Satz
nicht zutrifft, ist die zu zahlende Gebühr doch immer noch himmelweü
entfernt von dem Porto von 1 Taler 19 Guten Groschen, das unser
amerikanischer Brief vor wenigen Jahrzehnten erforderte.
Heute haben wir die Westpost und den Weltpostverein!
Der Weltpostverein trat am 9. Ostober 1874 ins Leben durch Unter-