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1. Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen - S. 224

1913 - Leipzig : Hahn
224 ein „Brief aus Amerika", der ein Gegenstand des Staunens, der Ber- Wunderung, ja der Ehrfurcht war. Das beängstigend dünne Ding — man konnte mit einigem guten Willen ganz bequem den Inhalt als Spiegel- schrift lesen, denn die letzte Seite des durchsichtigen Bogens bildete zugleich den Briefumschlag — war auf beiden Testen mit verschiedenfarbigen Stempeln so dicht bedeckt, daß aus den Kreisen, Ziffern und Buchstaben nur mühsam die Adresse herausbuchstabiert werden konnte. Besagter wunderbarer Brief meldete den Tod eines Erbonkels in Amerika. Der Brief hatte volle neun Monate gebraucht, um von einer Hafenstadt im Golf von Mexiko nach unserem deutschen Heimatstädtchen zu gelangen. Wegen dieses Zeitverlustes entstand daher, nachdem der Schmerz um den „sehr entfernten Onkel" sich gelegt hatte, große Unruhe; denn laut des Briefes sollte mit diesem zugleich die Erbschaft in Gestalt von etlichen Päckchen Goldstaub und zwei silberbeschlagenen Doppelpistolen abgeschickt worden sein. Das hohe Porto war seufzend, aber doch in einer gewissen Hoffnungsfreudigkeit mit 1 Taler und 19 Guten Groschen bezahlt worden. Jetzt ward ein langer und ausgiebiger Familienrat gehalten, bei dem der verheißungsvolle Brief aus Amerika eine große Rolle spielte und der mit der Aussetzung und Absendung eines ebenso energisch wie untertänig gehaltenen Briefes an die weise und löbliche Regierung des Freistaates Mexiko endigte. Darauf warteten wir abermals zwei volle Jahre, um endlich einen zweiten Brief, ganz ähnlich dem ersten, einlaufen zu sehen, der diesmal wirklich in Begleitung einer Kiste ankam, enthaltend etwas abgetragene Wäsche, einen Pistolengürtel, einen asten Basthut und ein Tagebuch. Da seufzte die Mutter vor der offenen Kiste und sagte: „Ja, wären nur die Postverbindungen gut genug, dann hätten die mexikanischen Diebe nicht Zeit gehabt, das Beste für sich zu nehmen", und der Vater antwortete: „Bedenke doch die ungeheure Entfernung, es sollen mehr als 6000 Seemeilen sein bis Mexiko, da geht vieles verloren, und manches bleibt unterwegs hängen." Damit war die Geschichte mit dem amerikanischen Briefe und dem Erbonkel erledigt. Was würden wir heute tun, wenn uns ähnliches begegnete? Ja, so etwas geschieht eben nicht mehr; denn „die Postverbindungen sind jetzt gut genug", wie die Mutter sagen würde. In der Tat, es kann nicht mehr geschehen, daß ein Brief von Wesündien nach Deutschland neun Monate braucht, selbst nicht, wenn Sturm und Wogen Verzögerung schaffen, vorausgesetzt, daß der Post- dampfer selbst nicht untergeht. Fast nach und von allen Ländern der Erde kann man seine Briefe um 20 Pfennig oder den entsprechenden Betrag in ftemder Münze versenden, und selbst wo dieser niedere Satz nicht zutrifft, ist die zu zahlende Gebühr doch immer noch himmelweü entfernt von dem Porto von 1 Taler 19 Guten Groschen, das unser amerikanischer Brief vor wenigen Jahrzehnten erforderte. Heute haben wir die Westpost und den Weltpostverein! Der Weltpostverein trat am 9. Ostober 1874 ins Leben durch Unter-
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