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1. Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen - S. 244

1913 - Leipzig : Hahn
244 ein wenig ausgelassen vor. Seine offenen, angenehmen Gesichtszügr prägten sich meinem Gedächtnis ein, und gern hätte ich den Grund seiner Munterkeit gewußt. Am folgenden Tage erfuhr ich ihn durch einen Zufall. Jener Soldat hatte während seiner ganzen Dienstzeit, drei Jahre, keinen Urlaub gehabt, um seine Heimat und seine Familie wiederzusehen; denn seine geringen Mittel erlaubten ihm die weite Reise nicht. Die lange Trennungszeit war ihm schwer geworden; er war immer schweigsam gewesen; denn er dachte viel an seine Eltern und Freunde und an sein heimatliches Dorf, vor allem aber an seine Mutter. Die war eine arme Bäuerin, alt und schwach; aber sie besaß einen fröhlichen 5tnn und ein wahres Engelsgemüt. Bon allen ihren Rindern liebte sie den fernen Sohn mit der größten Zärtlichkeit und ganz besonderer Sorge. Seine häufigen Briefe milderten freilich die Bitterkeit der Trennung; aber Papier bleibt doch immer nur Papier, und zärtliche Mütter wollen ihre Rinder sehen und mit fänden fassen. Auch den Rindern genügt es nicht zu wissen, daß daheim ein teures, graues Haupt ihrer gedenkt; sie wollen es an ihre Brust drücken. Nun bekam das Regiment eine neue Garnison, sie war die nächste Stam bei dem Heimatsorte des blauäugigen Soldaten. Nur wenige Meilen lagen jetzt zwischen ihm und dem Baterhause, das war der Grund seiner Fröhlichkeit nach dem anstrengenden Marsche. Zwei Tage waren nach dem Einmarsch des Regiments ver- gangen, und unser Soldat war im Begriff, sich einen kurzen Urlaub zu erbitten, um nach Hause zu eilen. Da wurde ihm ein Brief übergeben, der kam von seiner Mutter und lautete: „Morgen komme ich nach der Siam, ich kann's nicht mehr erwarten, ich muß meine Arme um deinen Hals schlingen!" Es gelang dem guten Sohn, am andern Tage für einige stunden vom Dienste befreit zu werden« In der Nacht konnte er nicht schlafen. Mft setzte er sich aufrecht und blickte nach dem gestirnten Himmel. So verstrichen lange Stunden, bis endlich die Ermattung siegte; aber er träumte von seiner Mutter. Sie stand lächelnd an seinem Lager und strich mit der Hand über seine Stirn. Langsam schlichen am andern Morgen die Stunden hin. Die Gedanken des Sohnes eilten in die Heimat. Er sah seine Mutter ein Bündel für ihn zurechtbinden und sich auf den ll)eg machen. Im Geiste folgte er der guten, alten Frau, wie sie auf der langen, staubigen Landstraße hinschritt. „Ach, könnte ich ihr doch das Bündel tragen!" sagte der Sohn leise vor sich hin. Dann eilte er ans Fenster, setzte sich wieder auf den Schemel und verfiel in tiefes Sinnen. Jetzt hörte er auf der Treppe eilige Schritte. — „Draußen steht eine alte Frau, die nach dir fragt", teilte ihm ein Ramerad mit. — „Meine Mutter!" ruft der Soldat aus, stürmt die Treppe hinunter, stürzt über den Hof, erblickt eine Frauengestalt und fliegt auf sie zu«
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