1913 -
Leipzig
: Hahn
- Hrsg.: Leipziger Fortbildungsschul-Direktoren und -Lehrern
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1901
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule, Fachschule, Gewerbeschule
- Regionen (OPAC): Dresden
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): Jungen
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ein wenig ausgelassen vor. Seine offenen, angenehmen Gesichtszügr
prägten sich meinem Gedächtnis ein, und gern hätte ich den Grund
seiner Munterkeit gewußt. Am folgenden Tage erfuhr ich ihn durch
einen Zufall.
Jener Soldat hatte während seiner ganzen Dienstzeit, drei
Jahre, keinen Urlaub gehabt, um seine Heimat und seine Familie
wiederzusehen; denn seine geringen Mittel erlaubten ihm die weite
Reise nicht. Die lange Trennungszeit war ihm schwer geworden;
er war immer schweigsam gewesen; denn er dachte viel an seine
Eltern und Freunde und an sein heimatliches Dorf, vor allem aber
an seine Mutter. Die war eine arme Bäuerin, alt und schwach;
aber sie besaß einen fröhlichen 5tnn und ein wahres Engelsgemüt.
Bon allen ihren Rindern liebte sie den fernen Sohn mit der größten
Zärtlichkeit und ganz besonderer Sorge. Seine häufigen Briefe
milderten freilich die Bitterkeit der Trennung; aber Papier bleibt
doch immer nur Papier, und zärtliche Mütter wollen ihre Rinder
sehen und mit fänden fassen. Auch den Rindern genügt es nicht
zu wissen, daß daheim ein teures, graues Haupt ihrer gedenkt; sie
wollen es an ihre Brust drücken. Nun bekam das Regiment eine
neue Garnison, sie war die nächste Stam bei dem Heimatsorte des
blauäugigen Soldaten. Nur wenige Meilen lagen jetzt zwischen ihm
und dem Baterhause, das war der Grund seiner Fröhlichkeit nach
dem anstrengenden Marsche.
Zwei Tage waren nach dem Einmarsch des Regiments ver-
gangen, und unser Soldat war im Begriff, sich einen kurzen Urlaub
zu erbitten, um nach Hause zu eilen. Da wurde ihm ein Brief
übergeben, der kam von seiner Mutter und lautete: „Morgen komme
ich nach der Siam, ich kann's nicht mehr erwarten, ich muß meine
Arme um deinen Hals schlingen!" Es gelang dem guten Sohn,
am andern Tage für einige stunden vom Dienste befreit zu werden«
In der Nacht konnte er nicht schlafen. Mft setzte er sich aufrecht
und blickte nach dem gestirnten Himmel. So verstrichen lange
Stunden, bis endlich die Ermattung siegte; aber er träumte von
seiner Mutter. Sie stand lächelnd an seinem Lager und strich mit
der Hand über seine Stirn. Langsam schlichen am andern Morgen
die Stunden hin. Die Gedanken des Sohnes eilten in die Heimat.
Er sah seine Mutter ein Bündel für ihn zurechtbinden und sich auf
den ll)eg machen. Im Geiste folgte er der guten, alten Frau, wie
sie auf der langen, staubigen Landstraße hinschritt. „Ach, könnte
ich ihr doch das Bündel tragen!" sagte der Sohn leise vor sich hin.
Dann eilte er ans Fenster, setzte sich wieder auf den Schemel und
verfiel in tiefes Sinnen.
Jetzt hörte er auf der Treppe eilige Schritte. — „Draußen steht
eine alte Frau, die nach dir fragt", teilte ihm ein Ramerad mit. —
„Meine Mutter!" ruft der Soldat aus, stürmt die Treppe hinunter,
stürzt über den Hof, erblickt eine Frauengestalt und fliegt auf sie zu«