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1. Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen - S. 286

1913 - Leipzig : Hahn
286 Weitere Jahre eisernen Fleißes folgten den beiden ersten. Rietschel erkannte bald, wieviel ihm an Wissen und Bildung fehlte. Jede Stunde, die ihm seine Akademiearbeiten freiließen, verwandte er darauf, das Ver- säumte nachzuholen. Daß er schon seit seiner Kindheit gewöhnt war, die kostbare Zeit auszunutzen, das kam ihm jetzt doppelt gut zustatten. Das kleine Dachstübchen sah seinen Insassen vom frühen Morgen bis zum späten Abend rastlos tätig. Ein wahrer Feuereifer ergriff ihn, eine mächtige Ahnung, daß er nur dann seinen Beruf ganz und voll erfüllen könne, wenn er alle seine Kräfte soviel wie möglich zur Entfaltung und Ausbildung bringe. Ein anregender, herzlicher Verkehr mit gleichgesinnten Freunden gab diesem Streben weiteren Vorschub. Besonders schloß er sich an den jungen, später als Kupferstecher berühmt gewordenen Thäter an, der ihm ein treuer Genosse in seinen Arbeiten und seinen Entbehrungen wurde. Sie lasen viel zusammen. „Ein heißes Verlangen," erzählt Rietschel, „viel zu lernen, und das Gefühl, so ganz ohne alle Vorbildung zu sein, trieb uns zu einer Hast, daß wir gern alles auf einmal vorgenommen hätten. Es wurde gemeinsam studiert, Geschichte getrieben und Dichter- werke gelesen. Unser empfänglicher Sinn verschlang mit Begeisterung Goethes und Shakespeares Werke, auch die Alten wurden mit Bewunde- rung gelesen, und unser Leben war durch die Freundschaft, durch das Bewußtsein treu angewandter Zeit und durch das Gefühl inneren Reifens und Fortschreitens ein ungetrübt glückliches." — Für den Meißel ent- schied sich Rietschel erst, als ihm im dritten Jahre seines Dresdner Auf- enthaltes eine Unterstützung von drei Talern monatlich in Aussicht gestellt wurde, wenn er Modelleur für das Eisenwerk Lauchhammer werden wollte. Dessen Besitzer, Graf Einsiedel, löste ihn später in edelster Weise von seinen Verpflichtungen. In Dresden fehlte es damals gänzlich an tüchtigen Lehrern der Bildhauerkunst. Rietschel hatte schließlich sechs Jahre hier zugebracht, ohne daß er von seinen Leistungen und dem Vorwärtsschreiten in der Bildhauerei befriedigt gewesen wäre. So entschloß er sich denn, dem Beispiele seiner Freunde, die Dresden ebenfalls sämtlich verlassen hatten, zu folgen und nach Berlin zu dem berühmten Bildhauer Rauch zu wandern — zu wandern im buchstäblichen Sinne; denn zu der teueren Postfahrt reichten seine Mittel nicht aus. In Torgau aber zwang ihn das wilde Novemberwetter, sich auf die Post zu setzen. Ein mitleidiger Postillion hüllte den in seiner leichten Kleidung halb Erfrorenen in eine Pferdedecke. Ohne Mittel, ohne Empfehlungen, ohne Freunde und Be- kannte kam er nach Berlin. Es war eine besondere Auszeichnung, von dem größten der damals lebenden Bildhauer, dem Altmeister Rauch, als Schüler angenommen zu werden. Mit klopfendem Herzen trat Rietschel in die Werkstätte des Gewaltigen und ob seiner Strenge Gefürchteten. Rauch machte ihm zunächst wenig Hoffnung. Als er aber die Zeichnungen des talentvollen Jünglings gesehen hatte, nahm er ihn in seine Werkstatt auf und gewann ihn bald so lieb, daß er ihn zu seinen Abenden heranzog.
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