1. Bd. 1
- S. 521
1824 -
Leipzig Frankfurt a. M.
: Hinrichs
- Autor: Pölitz, Karl Heinrich Ludwig
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 5 – Tertiärbereich
52 t
Zustand der Wissenschaften und Künste.
Die republikanische Beredsamkeit der Römer war ein-
fach, schmucklos, und das Werk der zufälligen Bildung
einzelner Staatsmänner gewesen, bis drei große griechische
Redner (155 v. C.), der akademische Philosoph Karnea-
de s, der Stoiker D i o g en es, und der Peripatetiker Kri-
tolaus als Gesandte von Athen in Rom auftraten, und
den Sinn für Beredsamkeit bei den Römern anregten. Den-
noch dauerte es bis zu den Tagen des Ci cero (ff 44 v. C.),
che sie den Gipfel ihrer Vollkommenheit erreichte. Erst
Cicero vereinigte die Eigenschaften der größten griechischen
Redner, die Starke des Demosthenes mit der Fülle des
Platon und der Anmuth des Jsokrates. In seinen Staats-
reden, im Senate und ans Volk gehalten, zeigte sich das
ausgebildete Talent des wahren Redners in seinem ganzen
Glanze; ihn unterstützte dabei die Größe und Wichtigkeit
der Gegenstände, und diese erhob die Einbildungskraft und
die Kraft seiner Sprache bisweilen bis zur Begeisterung.
In gerichtlichen Reden, besonders bei Privatprocessen, war
sein Rednertalent durch die Geringfügigkeit des Gegenstandes
beschrankt; allein auch dann verließ ihn nie die Eleganz
und die Mannigfaltigkeit der Wendungen. — Er erlebte
noch den Sturz der Freiheit, und gleich nach ihm verloren,
bei der veränderten Staatsform, die Redner die großen
Stoffe und Veranlassungen zur Beredsamkeit. Es war nicht
mehr die gemeinschaftliche Sache eines freien Volkes, die
sie führten; sie waren herabgewürdigt, die Lobredner schwa-
cher Imperatoren, oder vor Gericht die Schutzredner ihrer
Clienten zu werden. Solche Stoffe konnten die Brust
nicht erheben, wenn gleich die rhetorischen Schulen
blühten, und ihre Zöglinge bei der Armuth der Wirklichkeit
die erhabenen Muster der Vorzeit studirten.— Minder kunst-
voll, aber deutlich, einfach und lehrreich für die Umgebun-
gen, in denen er lebte, sind die Briefe, die sich vom Ci-
cero erhalten haben.— Wenn bis auf Cicero die Rhe-
torik nach griechischen Schriften vorgetragen und ge-
lernt worden war, ob man gleich zu wiederhohltenmalen die
griechischen Rhetoren auf kurze Zeit ans Rom vertrieb; so
schrieb nun Cicero, und wahrscheinlich gleichzeitig mit ihm