1888 -
Wittenberg
: Herrosé
- Autor: Wolter, August
- Sammlung: Politikschulbuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
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Der Wipfel ist gebrochen,
Gott brich den Baum uns nicht!
Deutschland braucht Hohenzollern,
Sowie der Mensch das Licht.
Ihn selber aber, den Schwerleidenden, litt es nicht mehr im
fernen Italien. Gott der Herr selbst hatte, indem er den
91jährigen Greis zur ewigen Ruhe abberufen, ihm, dem Kron-
prinzen, den Thron der Preußenkönige und des deutschen Kaisers
angewiesen; dahin gehörte er nun auch. An die Spitze seines
treuen Volkes gestellt, wollte er llun auch in seiner Mitte leben und
— sterben. Nichts hielt ihn deshalb mehr in San Remo. Mit
echt hohenzollernschem Pflichteifer bestieg der todkranke Kaiser
Friedrich am 10. März den Extrazug, und brausend ging's den
Alpen entgegen, durch Deutschlands Fluren dahin, bis nach 36-
stündiger, anstrengender Fahrt der Zug in den Bahnhof von
Charlottenburg einlief.
Es war wohl ein arges Schneewetter und eisige Kälte,
aber Tausende harrten doch des geliebten neuen Herrschers, der
weit und breit im Vaterlande und im Auslande sich durch sein
leutseliges und biederes Wesen die Herzen von jung und alt
erobert, um ihn mit Jubelruf zu empfangen.
Ach, er hatte das Schmerzenslager nur gewechselt! Auf dem
Haupte die Krone, im Herzen die heilige, treue Liebe zu seinem
Volke und Vaterland, aber drinnen in den edlen Organen da
wütete die heimtückische Krankheit, zehrend an dem Lebensmark
des ritterlichen Helden. Das Charlottenburger Schloß war vom
11. März bis zum 1. Juni 1888 Zeuge von dem Mute und
Gottvertrauen eines Helden, wie ihn kein Schlachtfeld je geschaut.
Unter den fürchterlichsten Qualen und Beängstigungen, im An-
gesichte des mit Riesenschritten sich nähernden Todes kam keine
Klage über die Lippen des königlichen Dulders, und niemand
konnte mit größerem Rechte dem geliebten Sohne zurufen: „Lerne
zu leiden ohne zu klagen!"
Am 1. Juni trug ein kleiner Dampfer den hohen Kranken
von Schloß Charlottenburg die Havel hinab nach Schloß Friedrich-
kron bei Potsdam, dem ehemaligen „Neuen Palais". Dahin
zog's den todkranken Kaiser. Es war die Stätte seiner Geburt,
seiner freundlichen, fröhlichen Kindheit. Hier wollte der edle
Dulder sein Haupt zur Ruhe legen. Vierzehn Tage hat er seirr