1. Bd. 3
- S. 29
1899 -
Leipzig Leipzig
: Brandstetter
- Autor: Richter, Albert
- Sammlung: Kaiserreich Geschichtsschulbuecher
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
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fragte die Königin: „Weiß jemand, wer die Helden sind, die dort
über das Meer herkommen? ihre schönen Segel sind weißer, als
der Schnee." Da sprach Günther: „Es sind meine Mannen, die
ich unterwegs zurückgelassen habe." Als die Schiffe näher kamen,
sah man Siegfried vorn in einem Schiffe stehen, herrlich gekleidet,
und bei ihm noch manchen anderen Mann. Da fragte die Königin:
„Herr König, saget mir, ob ich die Gäste empfangen soll oder ob
ich sie lieber nicht grüße." Günther antwortete: „Gehet ihnen
vor den Palast entgegen, damit sie merken, daß sie gern gesehen
sind." Brunhild that es; den Siegfried aber grüßte sie wicht so
freundlich wie die anderen Helden. Dann wurde den Angekommenen
Herberge angewiesen und die Rüstungen wurden ihnen abgenommen
und aufbewahrt.
Als man endlich heim wollte in das Land der Burgunden,
sprach die Königin Brunhild: „Dem wollte ich hold sein, der
meinen und des Königs Gästen mein Silber und Gold, dessen ich
so viel habe, austeilen wollte." Alsbald bot sich Dankwart als
Kämmerer an, und die Königin war es zufrieden. Da zeigte sich,
daß Dankwart nicht geizig war. Manche reiche Gabe bot seine
Hand, und viele Arme wurden durch seine Freigebigkeit fröhlich.
Endlich ward es der Königin doch zu viel und sie sprach zu
Günther: „Herr König, euer Kämmerer läßt mir nichts; von
meinen Kleidern und von meinem Golde giebt er so reiche Gabe,
als ob ich bald sterben wollte. Ich gedenke, schon selber noch etwas
von dem zu brauchen, was mir mein Vater hinterlassen hat. Wenn
ihr ihm also wehren wolltet, mein Gut so zu verschwenden, so
wollte ich es euch großen Dank wissen." Hagen tröstete die Königin:
„Herrin, wisset, daß mein König so viel Gold und kostbare Kleider
besitzt, daß wir das, was wir von hier mitnehmen würden, wohl
entbehren können." — „Nein," erwiderte die Königin, „mir zu-
liebe laßt mich zwanzig Reisekasten mit Gold und Seide füllen,
damit ich etwas zu geben habe, wenn wir in König Günthers Land
kommen." Da wurden zwanzig Schreine mit dem Edelsten gefüllt,
was sie besaß, und ihr eigener Kämmerer mußte bei dem Einpacken
zugegen sein, weil sie Dankwart nicht recht traute. Günther aber
und Hagen mußten darüber lachen.
Darauf sprach die Königin: „Wem soll ich mein Land über-
lassen, wenn ich nun fortziehe?" Günther antwortete ihr: „Wen
ihr wollet, den machet zum Vogt." Da rief die Königin einen
ihrer nächsten Verwandten, den Bruder ihrer Mutter, und sprach
zu ihm: „Laßt euch das Land und die Burgen befohlen sein, bis
auch hier der König Günther die Herrschaft selbst übernehmen
wird." Darnach wühlte sie aus ihren Recken zweitausend Mann
aus, die mit ihr zu dem Lande der Burgunden fahren sollten, und