1894 -
Leipzig
: Voigtländer
- Autor: Giese, August
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Politikschulbuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Gesellschaftskunde
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wenig zu erhellen vermögen. Sicherlich ist die früher und auch
im vorigen Jahrhundert vielfach verbreitete Annahme, daß die
Urmenschen in einem paradiesartigen Zustande gelebt hätten
und mit der Steigerung der Kultur allmählich entartet seien,
eine Dichtung (Rousseau). In ihren Anfängen werden die vor-
geschichtlichen Menschen ganz ähnlich wie die Tiere ihre Bedürf-
nisse befriedigt haben, und nur langsam, aber stetig hoben sie,
durch Vernunft und Sprache vor ihnen ausgezeichnet, sich über
sie empor.
Sie lernten das Feuer anzünden und unterhalten, das Fleisch zur
Nahrung reiben, dörren und kochen und Werkzeuge aller Art sich be-
reiten. Ihre Wohnungen batten sie nicht selten in Höhlen (T ro gl o d y t e n),
so z. B. in den Gegenden der Loire, oder auch auspfählen am Rande von
Seeen, sog. Pfahlbauten, von denen noch mehrere erhalten sind. Erst
allmählich wußten sie sich die sie umgebende Natur nutzbar zu machen.
Ihre ersten Werkzeuge und Waffen machten sie sich aus Stein (Feuer-
stein), dann lernten sie die weiche Bronze benutzen, und noch später er-
fanden sie die Kunst, das Eisen zu bearbeiten. Die Völker, die noch heute
auf den niedrigen Stufen dieser Entwicklung stehen, nennen wir „Natur-
völker", z. B. die Australier.
Je mehr sich der Mensch zum Herrn über die Natur
macht, sie seinem Willen unterwirft, um so mehr entfernt er sich
vom Tiere, um so mehr steigt seine Kultur. Freilich muß
diese Hebung, um segensreich zu sein, sich auch auf sein gesamtes
geistiges Wesen, besonders auf fein sittliches Leben erstrecken,
und so hat sich in der That auch die Sittlichkeit, wenn auch nicht
überall in gleichem Maße, allmählich immer mehr veredelt. Die
Ansicht, daß der Naturmensch sittlich über dem Kulturmenschen
stehe, ist nicht haltbar, wie die nähere Bekanntschaft mit den
„wilden" Völkern zweifellos ergeben hat.
§ 62. Die Wirtschaftsstufen. Jäger- und Fischervölker.
Betrachten wir das wirtschaftliche Leben der Völker,
d. h. prüfen wir, durch welche Mittel sie sich ihren Lebens-
unterhalt erwerben und ihre sonstigen Bedürfnisse be-
friedigen, so gewahren wir eine Reihe von verschiedenen
Grundformen, die von der einfachsten zu immer verwickelteren
aufsteigen. Wir nennen diese Grundformen daher Wirtfchafts-
stufen.
Die einfachste, niedrigste Stufe ist die der Jäger- und
F i s ch e r v ö l k e r. Diese Völker sind in ihrer Ernährung lediglich
auf die Ergebnisse der Jagd, bezw. der Fischerei angewiesen, sie
kümmern sich nicht um die Vermehrung ihrer Nahrungsmittel,
sind also völlig von ihrer Umgebung, der N a t u r, a b h ä n g i g.
Wohl bedürfen sie schon der Arb eit, um sich zu ernähren, wohl