1915 -
Halle a.d.S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Ehringhaus, Friedrich
- Sammlung: Politikschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Gesellschaftskunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Landtag und Reichstag. — Wahlverfahren.
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Preußen. Deutsches Reich.
24. Wie ist das Wahlverfahreu zu beurteilen?
B e i m Abgeordnetenhaus.
1. Daß alle Bürger, auch die,
die keine Steuern zahlen, die also
nicht so viel Interesse am Staat zu
haben pflegen, wie die anderen, daß
vor allem diejenigen, die ihren Wohn-
sitz ändern und leicht wegziehen können,
ebenso wählen dürfen wie alle die,
welche Steuern zahlen und einen festen
Wohnort und Grundbesitz haben, ist
wohl zu weitgehend.
Anderseits würde durch Beschrän-
kung des Stimmrechts der unbemit-
telten, unteren Volksklassen die libe-
rale Richtung geschwächt und die
konservative gestärkt.
2. Daß nur der „Geldbeutel" den
Ausschlag gibt, wird außerdem gerügt.
Wohl ist zu beachten, daß dies das
älteste und leichteste Wahlverfahren
ist und alle diejenigen, die die meisten
Pflichten haben, auch die meisten
Rechte haben dürfen, da sie ja auch
mehr Interesse am Staatsleben haben.
Aber daß Alter, Bildung und Grund-
besitz nicht besonders geweitet werden,
ist doch wohl ein Fehler.
3. Auch die Art der Wahl ist an-
zufechten. In Kassel wählten z. B.
in einem reichen Bezirk in der
I. Kl. ein Herr mit 73000 M. Steuern
Ii. „ 10 Herren „ 5000 „ „
Iii. „ alle anderen.
Dagegen in einem armen Bezirk in der
I. Klasse 20 Herren mit 73 Mark,
Ii. „ 100 „ „ 37 „
Iii. „ alle anderen.
4. Die öffentliche Wahl ist wohl
die idealste, aber da die meisten Wähler
nicht unabhängig sind, werden sie
leicht wirtschaftlich geschädigt.
Beim Reichstag.
Hier gilt dasselbe wie in Preußen.
Das allgemeine gleiche Wahl-
recht wird vor allem noch beanstandet,
weil die Wahl geheim ist. Bis-
marck wollte öffentliche Wahl, aber der
Reichstag setzte die geheimewahl durch.
Bismarck glaubte, letzterer würde
durch das Reichstagwahlrecht „zum
Brennpunkt des nationalen Einheits-
gefühls", er wollte hierdurch den
nationalen Sinn erziehen und stärken.
Er glaubte, es sei nötig, gegen den
Partikularismns der Fürsten; in Wirk-
lichkeit hat der Bundesrat die allge-
meinen deutschen Interessen mehr ver-
treten als der Reichstag, der zu sehr
Parteiinteressen vertrat. Ein so weit-
gehendes Wahlrecht, das einer demo-
kratischen Verfassung entnommen ist
(Fr. 22), erfordert ein politisch ge-
bildetes Volk.
Eine Übertragung desselben auf
Preußen wäre daher nicht gut.
Getadelt wird außerdem, daß das
Reich immer noch 397 Wahlkreise
hat, trotzdem Deutschland über 60 Mil-
lionen Einwohner hat.
Freilich haben die Städte — die
doch am meisten Steuern bezahlen —
zu wenig Abgeordnete (Berlin nur
sechs), aber dort ist auch die beweg-
liche Bevölkerung, und den Grund-
besitz hat das Land, das außerdem
hauptsächlich die Wehrpflicht leistet.