1918 -
Halle (Saale)
: Gesenius
- Autor: Sanwürk, S. von, Ehringhaus, Friedrich, List, Heinrich Theodor
- Sammlung: Politikschulbuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
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Das konnte und durfte nicht immer so bleiben; daher mußte Deutsch-
land seine Einnahmen vermehren, um die Bevölkerung ernähren zu
können. Bisher war es ein landwirtschaftlicher Staat, aber der Vod.n
konnte doch nicht beliebig vermehrt werden. Sodann brauchte es auch
Geld, um Waren zu kaufen. Wenn also nicht die überschüssige Be-
völkerung zur Auswanderung gezwungen werden und damit dem
Deutschtum verloren gehen sollte, mußte Deutschland auch ein Industrie-
staat werden: die Voraussetzungen dafür, Kohle und Eisen, hatte es
ja in reichem Maße; aber darüber hinaus fehlte fast alles — geschulte
Arbeiter, Maschinen, eine Flotte, Geld —, und die Erzeugnisse der
älteren Industrieländer beherrschten den Weltmarkt.
Aber das Deutsche Reich setzte sich trotz aller Widerstände durch.
Die deutsche Industrie nahm einen in der Geschichte einzig dastehenden
Aufschwung, wenn er auch langsam und nicht ohne Rückschläge erfolgte.
Die tatsächliche Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft zur Welt-
wirtschaft ist also nicht das Ergebnis bewußten Wollens irgendwelcher
führenden Staatsmänner, sondern die Auswirkung der natürlichen und
wirtschaftlichen Kräfte Deutschlands.
Einige Zahlen werden den Aufstieg unseres Landes am besten
klarmachen:
Kohlen Eisen Schiffe Handel
1870. ... 30 Mill. t 1,5 Mill. t ca. 150 überseed. 5 Milliard. M.
1890.... 90 „ „ 5 „ „ „ 900 „ 8
Daraus ergab sich aber die Notwendigkeit, sowohl für den Bezug von
Rohstoffen zu sorgen, als auch Absatzmärkte für die Industrieerzeugnisse
zu beschaffen.
Allen diesen Umständen hatte Bismarck nicht genug Rechnung ge-
tragen; sein Gedanke vom gesättigten Deutschland konnte aber jetzt
nicht mehr aufrechterhalten werden. Die deutsche Industrie verlangte
Rohstoffe und Absatzgebiete. So wuchsen wir infolge unserer Über-
völkerung und des Aufschwungs der Industrie in den Welthandel und
die Weltwirtschaft hinein. Dem mußte auch unsere Politik Rechnung
tragen; aus der Weltwirtschaft ergab sich naturgemäß die Weltpolitik.
Richt Machthunger und Herrschsucht veranlaßten sie, wie unsere Gegner
behaupten, sondern die Verhältnisse nötigten uns zu diesem Schritt,
wenn anders Deutschland nicht verkümmern wollte.*) Cs ist das welt-
geschichtliche Verdienst unseres Kaisers, daß er mit klarem Blick erkannte,
daß die zunehmende Bevölkerung und der große wirtschaftliche Auf-
schwung Deutschlands die Teilnahme an der Weltwirtschaft und Welt-
politik verlangten, und daß er seinem Land Richtlinien für die neue Zu-
kunft wies.
Da wir durch den Welthandel Rebenbuhler der Großmächte, vor
allem Englands, geworden waren, suchte Wilhelm Ii. die deutsche Poli-
tik nach folgenden Gesichtspunkten zu gestalten:
*) Caprivi sagte: „Entweder muffen wir Menschen oder Waren ausführen".