1918 -
Halle (Saale)
: Gesenius
- Autor: Sanwürk, S. von, Ehringhaus, Friedrich, List, Heinrich Theodor
- Sammlung: Politikschulbuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
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Weltreich, das ich mir geträumt habe, soll darin bestehen, daß vor allem
das neuerschaffene Deutsche Reich von allen Seiten das absolute Ver-
trauen eines ehrlichen, friedliebenden Nachbarn genießen soll, und daß,
wenn man dereinst vielleicht von einem deutschen Weltreich in der Ge-
schichte reden sollte, es nicht auf Politik begründet sein soll durch das
Schwert, sondern durch gegenseitiges Vertrauen der nach gleichen Zielen
strebenden Völker." Deutlicher konnte nicht betont werden, daß die
deutsche Weltmachtpolitik nur auf friedlichem Weg ihr Ziel erreichen,
daß sie nur die Handelsfreiheit für die Zukunft sich sichern, daß sie, wie
man sagt, den Grundsatz der „offenen Türe" aufrecht erhalten wollte.
Die Erwerbung von Landbesitz in Marokko lehnte die deutsche Ne-
gierung stets ab, auch gegen eine bloße Vormachtstellung Frankreichs
hatte sie nichts einzuwenden, da Nordafrika ja französisches Kolonial-
gebiet ist und wir uns in Marokko nicht halten können. Wenn aber
Frankreich selbst seinem Freund England 1904 nur für 30 Fahre
Handelsfreiheit gestattete, so hatte Deutschland für seinen Handel gar
keine Freiheit zu erwarten, sobald Marokko französischer Besitz war.
Darum mußte Deutschland eingreifen, ehe dies geschah.
Warum war und ist die Erschließung überseeischer Gebiete, die
Politik der offenen Türe für Deutschland so nötig?
Da unsere Volkszahl und Industrie immer mehr wuchs, mußten
wir neue Bezugs- und Absatzgebiete suchen. Nun gab es aber in der
Welt nur noch wenige Staaten, die selbständig waren und in denen
die freie wirtschaftliche Betätigung Deutschlands möglich war. Alle
die Länder, die anderen Großmächten gehören, ziehen natürlich Landes-
angehörige den Fremden vor und erschweren diesen die Erschließung
ihres Gebietes und den freien Handel. Am so größeren Wert mußte
— und muß — Deutschland darauf legen, daß die noch nicht unter-
worfenen Länder, z. V. Marokko, Persien, China, für die Entfaltung
seiner wirtschaftlichen Tätigkeit frei blieben, daß der Grundsatz der
offenen Türe gewahrt blieb, d. h. daß die Türen in das Land für
es offen gehalten wurden. Daß wir hierbei mit anderen Völkern, die
ebenfalls in dem betreffenden Land Handel trieben, aneinander stießen,
brachte die Sache mit sich und kann uns nicht zum Vorwurfe gemacht
werden.
c) Sturz Delcasses.
Sobald sich also die deutsche Regierung davon überzeugt hatte,
daß die Gleichberechtigung Dcutschands in Marokko bedroht war,
brachte sie durch Kaiser Wilhelms Landung in Tanger zum Ausdruck,
daß sie ein unabhängiges Land und die Gleichberechtigung aller Mächte
verlange. Deutschland wählte diese Form des Einspruches, weil es damit
aller Welt, die schon damals von England und Frankreich gegen uns
verhetzt wurde, kund tun wollte, was es in Marokko wollte. Am
11. April 1905 schlug es den Mächten die Einberufung einer neuen
Marokkokonferenz vor. Als Frankreich ängstlich wurde, versprach ihm
die englische Regierung Ende Mai 1905 seine Unterstützung im Fall
eines Krieges. Delcasso wollte es daraufhin auch zum Krieg kommen