1910 -
Wittenberg
: Herrosé
- Autor: Bodesohn, August
- Sammlung: Politikschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch, Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13, Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen, ISCED 5 – Tertiärbereich
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Schon am Tage vorher wurde die Lokomotive, welche den
Namen „Borsig" trug, nach dem Anhalter Bahnhof gebracht, dort
noch einmal montiert und dann früh am Morgen des bestimmten
Tages geheizt. Die ganze Nacht harrte Borfig bei seinen Ar-
beitern treulich aus, anordnend und arbeitend, tüchtig mit ein-
greifend. Mit banger Erwartung sah er der Stunde der Entschei-
dung entgegen. Dieselbe kam.
Eine stattliche Anzahl sich für die Sache interessierender Per-
sonen hatte sich auster dem Sachverständigenkollegium eingefunden,
auch englische Ingenieure. Im gegebenen Augenblicke schritt
Borsig dem Maschinenschuppen zu und bestieg dort den seiner schon
mit feurigem Schnauben harrenden Eisenrenner. Mutig und mit
stolzer Sicherheit bewegte sich das erste deutsche Dampfrost vor-
wärts. Von seinem Erbauer selbst gelenkt, brauste es an denr
Bahnsteig vorüber, eine Strecke die Bahn entlang, dann im
schnellsten Laufe zurück, und auf einen Wink stand es unter der
Halle still. Stürmischer Beifall empfing Borsig und seinen
„Borsig". Die Engländer machten lange Gesichter, als der Führer
ihnen zurief: „Sehen Sie, meine Herren, sie geht! Sie ist also in
Wahrheit eine Lokomotive!"
Nun wurde ein offener Wagen angehängt, die Herren stiegen
ein. und auf einer Fahrt bis Grostbeeren führte Borsig seinen
Eisenhengst in allen Gangarten noch einmal vor, wobei sich der-
selbe vollkommen bewährte. In Grostbeeren, wo schon einmal
deutsche Kraft über die Fremdherrschaft gesiegt hatte, wurde
deutschem Streben, deutschem Fleiste und deutscher Arbeit wieder-
um der Siegespreis zuerkannt. Das Richterkollegium sprach sich
einstimmig dahin aus, dast die Borsigsche Lokomotive als durchaus
gelungen anzuerkennen sei. — Borsig. der diesen Tag zu den
schönsten seines Lebens zählte, schlost darauf mit der Direktion
einen Vertrag ab, wonach sich dieselbe verpflichtete, ferner alle aus
seiner Maschinenbauanstalt hervorgehenden Lokomotiven auf der
Anhalter Bahn zu verwenden. So wurde Borsig durch diese Tat.
welche unsere heimische Eisenindustrie von der Herrschaft Englands
befreite, der deutsche Stephenson, der nun unter entsprechender Er-
weiterung seiner Fabrik seine Haupttätigkeit fortan auf den Bau
von Lokomotiven verlegte. Schon im Jahre 1846 verliest das
hundertste und zwei Jahre später das zweihundertste Dampfrost
das Borsigsche Gestüt.
Immer gröster wurde die Zahl derselben, und immer weiter
dehnten sich die Räume der Anstalt. Borsig blieb nicht dabei
stehen, den deutschen Eisenbahnen zuerst deutsche Lokomotiven zu
liefern. Hatte er bisher Kohlen und Schmiedeeisen aus England
beziehen müssen, so suchte er sich jetzt auch davon frei zu machen,
indem er in Moabit ein grostartiges Eisenwerk anlegte, wo deut-
sches Roheisen zu künstlichen Fabrikaten, wie er sie für seine An-
stalt gebrauchte, bereitet werden sollte. In Königshütte und Ruda
in Schlesien erwarb er Steinkohlenbergwerke, die ihm inländisches