1910 -
Leipzig
: Quelle & Meyer
- Autor: Meyer, Paul
- Sammlung: Politikschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule
- Inhalt Raum/Thema: Gesellschaftskunde
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Drittes Kapitel.
demokratische Arbeiterpartei umbildete. Leider rissen in ihr ehr-
geizige Fanatiker und unklare Schwärmer, die nach einer Welt ohne
Ehe, ohne Vaterland, ohne Glauben verlangen, die Herrschaft an
sich. Vas Erfurter Parteiprogramm vom Jahre 1891, das noch
heute maßgebend ist, atmet den Geist des radikalen Marxismus.
Es lautet:
„Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit
Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grund-
lage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie
trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in
einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol
einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern
werden.
Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die
Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe, geht
die Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes Wachs-
tum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser Um-
wandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern monopolisiert.
Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten (Kleinbürger, Bauern)
bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends,
des Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung.
Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter
die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen
Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen
Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche
Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist.
Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert
durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen,
die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicher-
heit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, daß
die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind,
daß das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit
deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.
Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel
war, dem Produzenten das Eigentum an seinem Produkt zu sichern, ist heute
zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriieren
und die Nichtarbeiter (Kapitalisten, Großgrundbesitzer) in den Besitz des Pro-
duktes der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen
Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund und Boden, Gruben und
Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel) in gesellschaft-
liches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische,
für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß
der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen
Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer (Quelle des Elends und
Unterdrückung zu einer (Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger
harmonischer Vervollkommnung werde.
Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht bloß
des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts, das unter
den heutigen Zuständen leidet. Aber sie kann nur das Werk der Arbeiterklasse
sein, weil alle andern Klassen trotz der Interessenstreitigkeiten unter sich auf
dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen und die Er-