1912 -
Straßburg
: Bull
- Autor: Hauptmann, Emil
- Sammlung: Politikschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Fortbildungsschule, Volksschule, Mittelschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Regionen (OPAC): Elsaß-Lothringen
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Mode, bedruckte Stoffe zu tragen, nimmt bei uns immer mehr ab, und
die fremden Länder, die früher solche Stoffe kauften, Rußland, Ungarn,
Nordamerika, haben eigene Stoffdruckereien errichtet und schließen durch hohe
Zölle ihre Grenzen gegen unsere bedruckten Stoffe. Auch auf diesem Gebiete
wird sich also unsere Industrie ein neues Feld der Tätigkeit suchen müssen.
Warum aber schützt das Reich die feinen elsässischen Garne nicht
besser? Bis zur Stunde kann die deutsche Weberei die englischen Garne
nicht entbehren. England allein lieferte ihr im Jahre 1910 für rund
190 Millionen Mk. Wollen- und Baumwollengarn. Soviel vermöchte unsere
elsässische Industrie niemals zu erzeugen. Das englische Garn müßte also
doch eingeführt werden. Der Zoll aber würde unsern Webern ihren Roh-
stoff nur verteuern. Es hieße darum ihren Gewinn schmälern, wenn das
Reich den Zoll sehr hoch setzte. Wieder wird uns deutlich, wie das Reich,
der Staat, das allgemeine Wohl zu schützen und zu fördern hat.
Wenn Frankreich fremdes Garn mit hohem Zoll belegen kann, so
liegt das z. T. wohl auch daran, daß es noch große Schafherden besitzt,
den Rohstoff also teilweise im eigenen Lande hat, während im Deutschen
Reiche bei der dichten Bevölkerung der Boden viel zu kostbar ist, als daß
er der Schafweide überlassen werden dürfte. Jedes Land hat eben seine
besonderen Sorgen, seine besonderen Bedürfnisse und muß sich nach
diesen einrichten.
Im ganzen darf man wohl sagen: auch unsere Textilindustrie hat
von der Wiedervereinigung unserer Heimat mit dem Deutschen Reiche mehr
Vorteile als Nachteile gehabt. Sie stand 1871 so stark da, daß sie nicht
nur von einer glänzenden Eroberung des deutschen Marktes hätte träumen
dürfen, sondern sie schien auch bestimmt, der Führer der gesamten deutschen
Textilindustrie zu sein auf ihrem Eroberungszuge durch die Welt. Alles
war vorhanden, was sie brauchte: ein Land, dessen Bevölkerung sich reißend
mehrte, die also fortwährend neue Käufer stellte, Käufer, die von Jahr zu
Jahr wohlhabender wurden; für sich selbst billige Wasserkräfte zum Antrieb der
Maschinen. Wohl liegt sie weit ab von den volkbelebten Städten Nord-
deutschlands, wohl haben ihre Waren hohe Frachten bis zur See hin zu tragen.
Aber unsere Textilindustrie vermochte ihre Eroberungen nicht zu be-
haupten. Seit etwa zwei Jahrzehnten büßte sie sogar den stolzen Platz
innerhalb der deutschen Textilindustrie ein, den sie von 1871—1890 noch
eingenommen hat. 1,435 Millionen elsässische Baumwollspindeln haben
1871 nur 3 Millionen altdeutsche sich gegenüber gesehen. Bis zum Jahre
1909 hatte Altdeutschland seine Zahl beinahe verdreifacht, zählte es 8,6
Millionen Spindeln. Das Elsaß war mühsam auf 1,568 Millionen auf-