1873 -
Oldenburg
: Stalling
- Autor: Stacke, Ludwig Christoph
- Sammlung: Kaiserreich Geschichtsschulbuecher
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
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schon zur Ruhe gegangen war, blieb Odysseus noch im Saale,
in tiefes Nachdenken über den Mord der Freier versunken.
Da trat die schöne Penelope mit ihren Mägden aus dem
Gemache: dem Odysseus ward ein Sessel zurecht gestellt, und
nun begann dieser eine ersonnene Erzählung, wie er aus
Kreta stammend, den Odysseus vor Troja gesehen habe, und
daß dieser, noch frisch und gesund, im Lande der Thesprotier
sich aufhalte und bald in die Heimath zurückkehren werde.
Die Erklärung klang so wahrscheinlich, daß Penelope,
im Herzen darüber erfreut, dem armen Bettler gewogen ward
und der Schaffnerin Euryklea gebot, dem Gaste die Füße zu
waschen. Doch der Schaffnerin war schon längst die Aehn-
lichkeit des Bettlers mit Odysseus ausgefallen und ihr Gemüth
war von froher Ahnung bewegt. Als sie aber bei dem Fuß-
bad am Beine des Fremden eine ihr wohlbekannte Narbe ge-
wahrte, da war kein Zweifel mehr und sie hätte ihrer Herrin
Penelope sogleich die frohe Kunde zugerufen, wenn ihr nicht
Odysseus mit Gewalt den Mund zugehalten und tiefes
Schweigen anbefohlen hätte.
Die Königin begab sich in ihr Gemach zur Ruhe, und
Odysseus lagerte sich vor dem Saal auf eine Stierhaut, doch
der Schlaf floh ihn, und er hatte hier Gelegenheit, die muth-
willigen Scherze der zuchtlosen Mägde zu nächtlicher Stunde
anzusehen, und nur mit Mühe bezwang er feinen Grimm.
Da erschien ihm, als er gerade über den Mord der
Freier nachdachte, Athene, erfüllte seine Seele mit Muth, und
ließ sanften Schlummer auf seine Augen sich senken.
Mit dem andern Morgen brach der Tag der Entscheidung
an. Die Freier kamen und begannen ihr wüstes Treiben
noch ärger als sonst, ohne sich durch die Zeichen des nahen
Verderbens warnen zu lassen. Ein Seher, den Telemachos
von seiner Reise mitgebracht hatte, sah im Geiste schon die
Wände mit Blut besprengt, und die Schatten der Freier in
die Unterwelt wallen. Diese schlug jetzt Athene mit Verrückt-
heit, sie aßen blutbesudeltes Fleisch, und die Thränen standen
ihnen in den Augen, dennoch erhoben sie, ohne ihr nahes Ver-
derben zu ahnen, grinzendes Gelächter und verachteten den von
Begeisterung erfüllten Seher, der sich aus dem Saale entfernte.