1905 -
Leipzig [u.a.]
: Klinkhardt
- Autor: Lange, Karl, Jütting, Wübbe Ulrich, Weber, Hugo
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Regionen (OPAC): Sachsen
- Inhalt Raum/Thema: Weltkunde
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
202
mit Südwestdeutschland in kürzester Linie verband. Diese Linie
aber konnte nur über den St. Gotthard führen; denn von allen
Pässen ist der St. Gotthardpafs der einfachste und natür-
lichste Durchschnitt der Alpen. Von Brunnen am Vierwald-
stätter See zieht sich das Tal der Keufs wie eine gewaltige
Furche hin nach Süden, bis sich der Gebirgsstock der St. Gott-
hardgruppe massig in den Weg stellt; jenseit des Gebirgsstockes
führt das Tal des Tessin nach der Poebene. In riesenhaften
Windungen steigt die Fahrstrasse den Gebirgsstock hinauf. Die
Bahn wählte einen kürzeren Weg: sie bohrt sich geradeswegs
durch das Berginnere hindurch, und dieser Gotthardtunnel ist
wohl das gewaltigste Bauwerk der Neuzeit. Seine Länge be-
trägt 14 900 m oder fast zwei deutsche Meilen.
Der Bau des Tunnels, der 8 Jahre währte, bot verschiedene
Schwierigkeiten. Hier war das Gestein so hart, dass es der
Arbeit jedes Instrumentes zu spotten schien; dort wieder kam
man an lockeres Erdreich, das fortwährend herunter bröckelte
und alle Stützen und Wölbungen zerdrückte; dann stürzten
wieder Gewässer aus den Wänden, welche die Arbeiter be-
drohten. Die Hitze im Berginnern — beim Bau 34°, jetzt 20° —
und die schlechte Luft, die durch grosse Lüftungsmaschinen
kaum genügend gereinigt werden konnte, erzeugten allerhand
Krankheiten. Auf dem kleinen Kirchhofe zu Gesehenen liegen
179 Opfer des Tunnelbaues begraben; 877 Arbeiter wurden mehr
oder weniger schwer verletzt. Man kann sich deshalb wohl die
Erregung denken, die entstand, als die sich entgegenarbeitenden
italienischen und deutschen Arbeiter so nahe aneinandergerückt
waren, dass sie ihre Stimmen hörten. Bald bildete nur noch
eine 2 m dicke Steinmasse die Scheidewand, und nun fanden sich
die Hauptleiter des Baues im Tunnel ein, um dem feierlichen
Augenblicke des Durchbruches beizuwohnen. Als dieser erfolgte,
da stürzten über die Trümmer der Steinwand die Arbeiter sich
gegenseitig in die Arme; da sah man bei dieser Arbeit ergraute
Männer Freudentränen weinen darüber, dass das Ziel endlich
erreicht war. Vor den Tunneleingängen aber ertönten die Pfeifen
sämtlicher Dampfmaschinen, um durch diesen Höllenlärm das
freudige Ereignis zu feiern.
Zum Teil noch schwieriger als die Anlage des grossen
Gotthardtunnels erwies sich der Bau in den Tälern der Keufs
und des Tessin. Das Gefäll der Talsohle ist hier oft so stark,
dass die Anlage einer Bahn unmöglich wird. Der Erbauer von Ge-
birgsbahnen sucht sich bei ähnlichem Gelände dadurch zu helfen,
dass er in Seitenthäler einbiegt und so allmählich in die Höhe
steigt, um alsdann wieder in das Haupttal zurückzukehren.
Aber derartige Seitentäler sind hier nicht vorhanden; senkrecht
steigen die Felsen am Flussufer empor, und in Wasserfällen er-