1900 -
Leipzig [u.a.]
: Ehlermann
- Hrsg.: Zernial, Unico, Huth, C. H. A., Hirt, Paul, Lucas, F., Hellwig, Paul, Spieß, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
- Geschlecht (WdK): Jungen
A. W. Schlegel: Wesen und Ursprung der Poesie. 3
werden; aber was sie im Laufe der Zeiten realisieren soll und
kann, vermag kein Verstandesbegriff zu umfassen, denn es ist un-
endlich. Bei der Poesie findet es aber in noch höherem Grade
statt; denn die übrigen Künste haben doch nach ihren beschränkten
Medien oder Mitteln der Darstellung eine bestimmte Sphäre, die
sich einigermaßen ausmessen läßt. Das Medium der Poesie aber
ist ebendasselbe, wodurch der menschliche Geist überhaupt zur
Besinnung gelangt und seine Vorstellungen zu willkürlicher Ver-
knüpfung und Äußerung in die Gewalt bekömmt: die Sprache.
Daher ist sie auch nicht an Gegenstände gebunden, sondern sie schafft
sich die ihrigen selbst; sie ist die umfassendste aller Künste und
gleichsam der in ihnen überall gegenwärtige Universalgeist. Das-
jenige in den Darstellungen der übrigen Künste, was uns über die
gewöhnliche Wirklichkeit in eine Welt der Phantasie erhebt, nennt
man das Poetische in ihnen; Poesie bezeichnet also in diesem Sinne
überhaupt die künstlerische Erfindung, den wunderbaren Akt, wodurch
dieselbe die Natur bereichert; wie der Name aussagt, eine wahre
Schöpfung und Hervorbringung. Jeder äußeren, materiellen Dar-
stellung geht eine innere in dem Geiste des Künstlers voran, bei
welcher die Sprache immer als Vermittlerin des Bewußtseins ein-
tritt, und folglich kann man sagen, daß jene jederzeit aus dem
Schoße der Poesie hervorgeht. Die Sprache ist kein Produkt der
Natur, sondern ein Abdruck des menschlichen Geistes, der darin die
Entstehung und Verwandtschaft seiner Vorstellungen und den ganzen
Mechanismus seiner Operationen niederlegt. Es wird also in der
Poesie schon Gebildetes wieder gebildet; und die Bildsamkeit ihres
Organs ist ebenso grenzenlos als die Fähigkeit des Geistes zur
Rückkehr auf sich selbst durch immer höhere, potenziertere Reflexionen.
Es ist daher nicht zu verwundern, daß die Erscheinung der mensch-
lichen Natur in der Poesie sich mehr vergeistigen und verklären
kann als in den übrigen Künsten und daß sie bis in mystische, ge-
heimnisvolle Regionen eine Bahn zu finden weiß. Man hat es höchst
befremdlich und unverständlich gefunden, daß von Poesie der Poesie
gesprochen worden ist; und doch kann man ohne Übertreibung und
Paradoxie sagen, daß eigentlich alle Poesie Poesie der Poesie sei;
denn sie setzt schon die Sprache voraus, deren Erfindung doch der
poetischen Anlage angehört, die selbst ein immer werdendes, sich
verwandelndes, nie vollendetes Gedicht des gesamten Menschen-
geschlechtes ist. Noch mehr: in den früheren Epochen der Bildung
gebiert sich in und aus der Sprache, aber ebenso notwendig und
unabsichtlich als sie, eine dichterische Weltansicht, d. h. eine solche,
in welcher die Phantasie herrscht. Das ist die Mythologie. Diese
ist gleichsam die höhere Potenz der ersten durch die Sprache be-
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