1900 -
Leipzig [u.a.]
: Ehlermann
- Hrsg.: Zernial, Unico, Huth, C. H. A., Hirt, Paul, Lucas, F., Hellwig, Paul, Spieß, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
- Geschlecht (WdK): Jungen
H. von Treilschke: Milton und das Verlorene Paradies. 177
es klingen mag, neben Milton als ein naiver Künstler. Gänzlich
unbefangen weist er die Zeitgenossen und die Menschen vergangener
Tage der Hölle oder dem Fegefeuer zu; er nennt sie beim Namen,
erzählt ihr Geschick, schildert sie ab vom Wirbel bis zur Zehe.
Solche Kühnheit durfte Milton inmitten der skeptischen modernen
Welt nicht mehr wagen: die Weltgeschichte betrachtet er in Bausch
und Bogen in raschem Überblick, und den Zeitgenossen gegenüber
muß er sich mit Anspielungen behelfen; wir erraten nur, daß unter
den grübelnden Dämonen des Pandümoniums die Dogmatiker der
Hochkirche gemeint sind. Dergestalt ist das Gedicht des Italieners
ungleich reicher an echt historischem Gebalt. Jeder Gesang der
„Hölle" führt uns in monumentaler Großheit ein erschütterndes
Bild von Menschenschuld und Menschenleiden vor Augen; und so
lange warme Herzen schlagen, werden die Erzählungen von Ugolino,
von Francesca von Rimino auch jene Leser im Innersten ergreifen,
welche für die symbolische Bedeutung des Gedichtes, für Dantes
mystische Weltanschauung kein Verständnis haben. Solche Scenen
von rein menschlicher Schönheit sind im Paradise lost weit seltener
zu finden. Und wie viel würdiger eines Dichters war Dantes Ge-
schick! Sein Italien war das Herz der Welt; alle Schönheit, alle
Tugenden und Laster der Zeit drängten sich zusammen in den ge-
waltigen Städten seiner Heimat, und über dieser farbenreichen Erde
prangte noch der katholische Himmel mit seiner Fülle glänzender
Gestalten. In dieser Welt lernte Dante den Reichtum des Lebens
und des Menschenherzens in ganz anderer Weise kennen als der
einseitige Puritaner. Freier, klarer zum mindesten mögen Miltons
sittliche Ideen sein; doch um Dantes Haupt schwebt jener Zauber,
welcher der großen Künstlerseele die höchste Weihe giebt, der Zauber
der Liebe. Der finstere Sänger, der die Greuel der Stadt der
Qualerkorenen kündete, er rühmte sich auch, daß er auf alle
Liebestöne lausche, er hat auch, menschlicher als der puritanische
Weiberfeind, die schmelzende Weise gesungen: „die ihr die Liebe
kennt, ihr edlen Frauen". Der Gedanke der Hinaufläuterung des
Fleisches zum Geiste ist für Milton ein philosophischer Satz; Dante
erfaßt ihn inniger, künstlerischer, er besingt, wie die irdische Liebe
sich zur himmlischen verklärt. Der Puritaner wußte mit kühlerem
Gleichmute als der leidenschaftliche Romane den schweren Wandel
seines Geschicks zu tragen; gleichmäßig, stetig wuchs er auf, er hat
nicht wie dieser einen Tag von Damascus erlebt. Aber Dante
vermag auch den vollen Sturm der Leidenschaft durch seine Verse
brausen zu lassen und das Herz des Hörers sogar noch mächtiger
als Milton aufzuregen. Der Florentiner wagte Gott und göttliche
Dinge in der mißachteten Sprache der Frauen zu besingen und er-
H Hz. und Spieß, Lesebuch für Ober-Sekunda. 12