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1. Prosalesebuch für Prima - S. 184

1909 - Leipzig [u.a.] : Ehlermann
184 I. Zur allgemeinen Kultur. zauberische Anziehung, die Goethes Lyrik auf uns ausübt. Es fehlt noch etwas, was nicht ausgesprochen ist, das ist die M u si k der Lieder. Woher stammt sie? Ob aus dem Versmaß? Es macht frei- lich diel, wie es sich in Fall und Tempo wechselnd dem jeweiligen Inhalt schmeichelnd anschmiegt. Auch der Reim tut das Seine. Aber daß weder er noch das Versmaß bei Goethischen Gedichten, deren Wohllaut uns gefangen nimmt, den Ausschlag gibt, das läßt sich leicht aus Goethes Prosa beweisen, wo wir Stücke von nahezu gleichem musikalischem Reize finden. Woher quellen die Melodien, die diese Stücke seiner Prosa so wie seine Poesie wunderbar uitd geheimnisvoll durchtönen? Ist es etwa der Lautklang der gewählten Worte? Wie wenige Lautverbindungen fallen angenehm in unser Ohr! Die allermeisten sind gleichgültig, nicht wenige mißtönend. Aber wenn es nicht ihr Lautklang ist, der uns melodisch tönt, so ihre Bedeutung, die Bedeutung der einzelnen und noch mehr der gebundenen Worte. Sie erzeugen in uns Vorstellungen, erwecken Bilder und Gedanken, die wie liebliche Harmonien uns ins Ohr fallen. Das ist der Hauptgrund der Goethischen Wortmusik. Und wenn wir fragen, wie kommt gerade Goethes Dichtung und Prosa diese Musik in besonderem Maße zu? so können wir darauf nur von neuem antworten: weil er die größte Harmonie des Geistes besaß, der sich alles Zusammenstimmend ordnete. Diese Harmonie des Geistes glänzt in der Lyrik zumal als Harmonie des Auges und des Gemütes. Da also das wesentliche Element Goethischer Sprachmusik rein geistiger Art ist, so wird es begreiflich, weshalb es für die Komponisten so schwer ist, sie ins Materielle zu übertragen. Sie müssen die gleiche Harmonie in ihr Schaffen hineinlegen oder sie unterliegen. Die Goethische Geistesharmonie bildet sich im Sprachkleide entsprechenden Ausdruck durch die Wortwahl (Stärke und Milde, sinnliche Kraft des Ausdrucks) und den Wort- sall, der in der Prosa sich in der Rhythmik des Satzbaues zeigt. In der Poesie kommen als unterstützende Elemente hinzu Vers- und Strophenbau, häufig auch der Reim, selten die Alliteration. — Nicht nur die meisten, sondern auch die Tüchtigsten und Reifsten werden in Stunden, da es sie drängt, sich aus dem trüben Wirrsal des Alltags in reine, hohe Luft zu erheben, mit dem Gefühl der Sehnsucht nach Goethes Gedichten greisen und sie mit dem Bewußt- sein tiefer Beruhigung, der Versöhnung mit der Welt, des frisch erworbenen Lebensmutes aus der Hand legen. Man wird böi wiederholter Rückkehr zu ihnen immer wieder die Wahrnehmung machen, daß sie stets neue Saiten anschlagen, neue Ausblicke eröffnen, neue Tiefen enthüllen. So wachsen sie einem jeden im Fortgang
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