1909 -
Leipzig [u.a.]
: Ehlermann
- Hrsg.: Huth, C. H. A., Spieß, Heinrich, Lucas, F., Zernial, Unico, Hirt, Paul, Spieß, Heinrich, Hellwig, Paul
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
- Geschlecht (WdK): Jungen
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I. Zur allgemeinen Kultur.
zauberische Anziehung, die Goethes Lyrik auf uns ausübt. Es fehlt
noch etwas, was nicht ausgesprochen ist, das ist die M u si k der
Lieder. Woher stammt sie? Ob aus dem Versmaß? Es macht frei-
lich diel, wie es sich in Fall und Tempo wechselnd dem jeweiligen
Inhalt schmeichelnd anschmiegt. Auch der Reim tut das Seine.
Aber daß weder er noch das Versmaß bei Goethischen Gedichten, deren
Wohllaut uns gefangen nimmt, den Ausschlag gibt, das läßt sich
leicht aus Goethes Prosa beweisen, wo wir Stücke von nahezu
gleichem musikalischem Reize finden. Woher quellen die Melodien,
die diese Stücke seiner Prosa so wie seine Poesie wunderbar uitd
geheimnisvoll durchtönen? Ist es etwa der Lautklang der gewählten
Worte? Wie wenige Lautverbindungen fallen angenehm in unser
Ohr! Die allermeisten sind gleichgültig, nicht wenige mißtönend.
Aber wenn es nicht ihr Lautklang ist, der uns melodisch tönt, so
ihre Bedeutung, die Bedeutung der einzelnen und noch mehr der
gebundenen Worte. Sie erzeugen in uns Vorstellungen, erwecken
Bilder und Gedanken, die wie liebliche Harmonien uns ins Ohr
fallen. Das ist der Hauptgrund der Goethischen Wortmusik.
Und wenn wir fragen, wie kommt gerade Goethes Dichtung
und Prosa diese Musik in besonderem Maße zu? so können wir
darauf nur von neuem antworten: weil er die größte Harmonie
des Geistes besaß, der sich alles Zusammenstimmend ordnete. Diese
Harmonie des Geistes glänzt in der Lyrik zumal als Harmonie des
Auges und des Gemütes. Da also das wesentliche Element
Goethischer Sprachmusik rein geistiger Art ist, so wird es begreiflich,
weshalb es für die Komponisten so schwer ist, sie ins Materielle
zu übertragen. Sie müssen die gleiche Harmonie in ihr Schaffen
hineinlegen oder sie unterliegen. Die Goethische Geistesharmonie bildet
sich im Sprachkleide entsprechenden Ausdruck durch die Wortwahl
(Stärke und Milde, sinnliche Kraft des Ausdrucks) und den Wort-
sall, der in der Prosa sich in der Rhythmik des Satzbaues zeigt.
In der Poesie kommen als unterstützende Elemente hinzu Vers- und
Strophenbau, häufig auch der Reim, selten die Alliteration. —
Nicht nur die meisten, sondern auch die Tüchtigsten und Reifsten
werden in Stunden, da es sie drängt, sich aus dem trüben Wirrsal
des Alltags in reine, hohe Luft zu erheben, mit dem Gefühl der
Sehnsucht nach Goethes Gedichten greisen und sie mit dem Bewußt-
sein tiefer Beruhigung, der Versöhnung mit der Welt, des frisch
erworbenen Lebensmutes aus der Hand legen. Man wird böi
wiederholter Rückkehr zu ihnen immer wieder die Wahrnehmung
machen, daß sie stets neue Saiten anschlagen, neue Ausblicke eröffnen,
neue Tiefen enthüllen. So wachsen sie einem jeden im Fortgang