1909 -
Leipzig [u.a.]
: Ehlermann
- Hrsg.: Huth, C. H. A., Spieß, Heinrich, Lucas, F., Zernial, Unico, Hirt, Paul, Spieß, Heinrich, Hellwig, Paul
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
- Geschlecht (WdK): Jungen
H. Hettner: Klopstocks literarhistorische Bedeutung.
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hatten keine Einsicht in diese Gebrechen. Einzig der junge Lessing
zeigte durch seine Kritik der ersten sechzehn Verse, daß er das Ge-
staltlose und gleißend Empsindelnde des allbewunderten Gedichts
völlig durchschaue.
Gleichzeitig mit den ersten Gesängen des Messias verbreiteten
sich Klopstocks erste Oden. Sie waren ganz dazu angetan, den gün-
stigen Eindruck von Klopstocks erstem Auftreten noch bedeutend zu
steigern. Der Inhalt sowie die Form waren von derselben Richtung
und Stimmung getragen, welche den Dichter in der Wahl des
Stoffs und der Form der Messiade geleitet hatte. Wie ihm dort
die religiöse Begeisterung der Ausdruck seines innersten Gefühls-
lebens war, so ist auch die Poesie dieser Oden wieder eigenstes Er-
lebnis; sogar so sehr, daß das bloß Augenblickliche, Zufällige, aus-
schließlich Persönliche falscher Gelegenheitsdichtung nicht immer zu
allgemein menschlicher Bedeutung geklärt ist. Wir treten heraus
aus der faden Nichtigkeit der verlogenen Anakreontik; wir hören
überall den gesunden Herzschlag einer.reinen und edlen Persönlich-
keit, welche voll und ganz für ihre Dichtung einsteht, weil sie nur
singt, was sie empfindet. Schlagen diese Oden einmal die Saite
Anakreons an, wie z. B. „Das Rosenband" und „Ihr Schlummer",
da ist die Empfindung von seelenvoller Zartheit, Reinheit- und Un-
schuld; am liebsten aber und am ergreifendsten singen sie von dem
Schmerz seiner unglücklichen Liebe zu Fanny, „von den unermeß-
lichen durchweinten Stunden, da die nicht hört, der mein Herz schon
lange geweint hat", von der Hoheit der Freundschaft, von schwärme-
rischer Naturempfindung, von Gott und Unsterblichkeit und, was seit
langer Zeit in Deutschland nicht mehr gehört worden, von der glut-
vollen und tapferen Liebe zum Vaterlande. Und wie im Messias,
so betätigte sich auch in diesen Oden dasselbe Streben nach idealer
Form, nach der Würde und Gemessenheit des großen Stils. Was
für die Messiade der Hexameter Homers und Virgils war, war für
die Oden Horaz mit seinen Versmaßen. Seit Klopstock schlug in
der deutschen Lyrik diese Horazische Odendichtung immer tiefere
Wurzeln.
. Sicher sind diese ersten Oden Klopstocks seine kräftigsten und
vollendetsten Leistungen. Es ist zwar auch hier viel unreife Über-
schwenglichkeit, mehr ein Schwelgen in der Vorstellung erhabener
Gedanken und Gefühle als ein unbefangenes Aufgehen in diesen Ge-
danken und Gefühlen selbst. Es fehlt nicht an gespreizter Gelehr-
samkeit in verzwickten Wendungen und gewaltsamen Wortbildungen;
die strophische Rhythmik entfernt sich oft aufs störendste von der
logischen. Aber diese Mängel verschwinden gegen die Frische und