1908 -
Berlin
: Grote
- Autor: Muff, Christian, Hopf, Jacob, Paulsiek, Karl
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1895
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
- Geschlecht (WdK): Jungen
Warnecke: Die Baustile.
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Absätzen; unten sind sie massiger gebildet, oben, wo sie über die Dächer
der Seitenschiffe frei in die Höhe steigen, sind sie reicher gegliedert und mit
kleinen Türmchen, sogenannten Fialen, bekrönt, die Kreuzblume und Krabben
tragen. Dieselbe Verzierung sieht man an den Wimpergen, den zweischenk-
ligen Spitzgiebeln, die als Bekrönung der Portale und Oberfenster dienen.
Überall wird die senkrechte Linienführung scharf betont, die wagerechte fast
verleugnet; je weiter nach oben, desto mehr wird die schwere Masse des
Steins durchbrochen und endlich in die zartesten Zacken und Spitzen auf-
gelöst. Diese beiden Grundgedanken des Äußeren kommen besonders an
dem Turmbau zur Geltung. Außer dem kleineren Dachreiter über der
Vierung hat die gotische Kirche zwei Türme (oder nur einen) an der West-
seite. Im romanischen Stil erscheinen die Türme als bloße Anbauten;
hier sind sie so eins mit der Kirche, daß sie in ihren unteren Geschossen
die Fassade bilden, die sich in mächtigen Portalen mit trichterförmig ge-
stellten Laibungen einladend öffnet. Mit gewaltigen, vielgegliederten Strebe-
pfeilern an den Ecken steigen die Türme empor, fast ganz von Fenstern
durchbrochen. In der Höhe des Daches lösen sie sich vom Körper der
Kirche und trennen sich voneinander, jeder immer noch viereckig. Dann
springen sie in Achteck über, indem die Strebepfeiler an den vier Ecken
frei in Fialen auslaufen. Zwischen den Wimpergen der hohen Fenster des
Oktogons setzen die Helme ein, ganz aus durchbrochenem Stab- und Maß-
werk gebildet.
Werfen wir von hier aus noch einmal einen vergleichenden Blick zum
griechischen Tempel, so haben wir die vollkommensten Baustile vor uns; bei
beiden ist der Bau gleichsam aus einem Gusse entstanden und bis in seine
kleinsten Teile wie mit Naturnotwendigkeit aus dem Grundgedanken der
Konstruktion erwachsen. Zugleich stehen sie zueinander im geraden Gegen-
satz. Der griechische Tempel ist ein Außenbau; die Cella ist nur der Idee
nach eine Wohnung. Im Äußeren liegt sein künstlerischer Vorzug; die
Säulenhallen öffnen sich weit nach außen auf den Tempelbezirk und das
zuschauende Volk und deuten die innige Verbindung zwischen dem öffent-
lichen Leben und der Religion der Hellenen an. Der gotische Dom ist ein
Jnnenbau, schließt von der Natur und der Alltäglichkeit des Lebens ab,
negiert sie gleichsam und reißt den ganzen Menschen, ohne daß er sich zu
wehren vermag, in den Zauber der Schönheit und die reine Sphäre des
Geistes. Beim griechischen Tempel gibt der Widerstreit zwischen Tragen und
Lasten, die harmonische Verbindung der senkrechten mit den wagerechten
Gliedern dem Ganzen wie den einzelnen Teilen das Gepräge des festen Be-
harrens; eine einfachere und ruhigere Schönheit ist nicht zu denken. Das
gotische Bauwerk ist ein Triumph des sinnenden und berechnenden mensch-