1908 -
Berlin
: Grote
- Autor: Muff, Christian, Hopf, Jacob, Paulsiek, Karl
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1895
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
- Geschlecht (WdK): Jungen
Springer: Rafael.
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zu ihrem Erstling herabblicken, ihn an den Busen drücken, sein Erwachen,
seine Spiele belauschen, einen wahrhaft madonnenhaften Eindruck. Man
betet nicht zu ihnen, man atmet aber mit ihnen göttliche Reinheit und
himmlischen Frieden.
Für diese menschliche Auffassung des Marienbildes — mancher wird
sie vielleicht auch die profane Auffassung nennen, aber nur geradeso, wie
Phidias und Polyklet die griechischen Göttertypen profanisierten — besaß
Rafael in der Florentiner Kunst bereits mannigfache Vorgänger. Dem
Beispiele Donatellos und anderer Plastiker folgend, haben auch schon die
Filippo und Filippino Lippi, die Botticelli und Verrocchio die fröhlich
liebende, jugendlich schöne Mutter in das Leben gerufen. Sie malten, wie
das Kind an der Mutter emporklettert, sich an diese zärtlich anschmiegt; sie
schildern, wie die Mutter ihrem Erstling eine Frucht, ein Spielzeug zeigt.
Aber das Hauptmotiv bei ihnen bleibt doch die Anbetung des Christkindes
durch die Madonna, welche mit gefalteten Händen vor demselben kniet oder
von Engeln sich dasselbe reichen läßt. Die alte Tradition wirft auf ihre
Darstellungen häufig einen wenn auch leichten Schatten, bei aller frischen
Lebendigkeit der Einzelschilderung, während bei Rafael die neue Auffassung
ganz ungetrübt und ungehemmt herrscht.
Die Sixtinische Madonna.
Die Sixtinische Madonna schließt sich in der Komposition am nächsten
der Madonna di Foligno an. Die Mutter, das Christkind im Arme, er-
scheint über den Wolken, von Engeln umgeben und von Heiligen verehrt.
Jedesmal schuf Rafael, wie es die kirchliche Bestimmung der beiden Werke
mit sich brachte, ein Andachtsbild und verlieh der Schilderung die Natur
einer Vision. Doch faßte er in der Sixtinischen Madonna, und darauf übten
gewiß die Teppichkartvns einen entscheidenden Einfluß, die Aufgabe ungleich
großartiger. Wie er die äußeren Maße des Bildes steigerte, so vertiefte er
auch die Charaktere und lieh der Vision einen viel reineren Ausdruck. Es
war kein neuer Gedanke, die Szene so darzustellen, als ob sie bisher den
Augen des Beschauers verhüllt gewesen und erst jetzt durch Öffnung des
Vorhanges sichtbar geworden sei. Auch auf dem Teppich der Krönung
Mariä ziehen zwei Engel den Vorhang zurück. Aber wirksamer konnte die
Plötzliche Offenbarung eines bis dahin verborgenen Geheimnisses nicht vor
die Augen gebracht werden, als es durch dieses einfache Mittel geschieht.
Die Madonna thront nicht auf den Wolken, sondern schwebt gleichsam aus
der Tiefe des Himmelsraumes vorschreitend auf denselben.
In dem Augenblicke, wo in dem Christkind seine göttliche Natur
dämmert und auch die Madonna ihrer hohen Sendung inne wird, müssen