1908 -
Berlin
: Grote
- Autor: Muff, Christian, Hopf, Jacob, Paulsiek, Karl
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1895
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Springer: Rafael.
die menschlichen Empfindungen zurücktreten. Das in früheren Schilderungen
so festgeschlungene Band zwischen Mutter und Kind lockert sich. Wohl hat
sich Christus behaglich in den Armen der Madonna zurechtgesetzt, den linken
Arm bequem auf den Unterschenkel gestützt. Diesen natürlichen Zug mochte
Rafael nicht missen. Wie diese Auffassung dem visionären Charakter des
Bildes besser entspricht als die lieblich heitere Darstelluug in der Madonna
di Foligno, so bekundet auch die Behandlung des Hintergrundes die weise Kunst
des Meisters, selbst in untergeordneten Dingen die Stimmung festzuhalten.
Der ganze Himmel erscheint wie übersät von kleinen Engelsköpfen, die sich
zwischen den Wolken verlieren und den Eindruck des Traumhaften ver-
stärken. Kein Donator vertritt die gläubige Gemeinde, keine reale Landschaft
breitet sich zu Füßen der himmlischen Gestalten aus. Nur der ehrwürdige
Papst Sixtus und die anmutige Barbara, deren Wahrzeichen, der Turm,
hinter dem Vorhänge sichtbar wird, knien auf Wolkenschichten zu seiten der
Madonna. Unten aber wird die Bildsläche durch eine Leiste geschlossen,
auf welcher die Tiara des Papstes ruht und auf welche die beiden geflügelten
Engelknaben ihre Arme stützen. Auch für diese sindet sich in der Madonna
di Foligno eine verwandte Gestalt, der Engel mit der Schrifttafel. Während
aber dieser in einer gemessenen Haltung, von der himmlischen Gruppe ganz
losgelöst, beharrt, fügen sich die Engel in der Sixtinischen Madonna der
Vision enge ein. Sie sind aus dem großen Engelsreigen herausgetreten,
uni sich den Vorgang näher anzusehen, und blicken mit munterer Neugierde,
so recht nach Kinderart, zu Christus empor. Sie lösen gleichzeitig die
Spannung, in welche das Pathos der Hauptgestalten den Beschauer ver-
setzt. Aus diesem Grunde, weil sie die Szene so vortrefflich abrunden,
können wir die beiden Knaben nicht für eine nachträgliche Korrektur des
Künstlers halten. Sie sind allerdings auf den fertigen Wolkengrund ge-
malt; daraus zu schließen, daß Rafael ursprünglich an ihre Darstellung
gar nicht gedacht hätte, erscheint keineswegs notwendig. Auch technische
Rücksichten können dazu den Anlaß gegeben haben.
Die beiden Engelkuaben, Ideale naiver Schalkhaftigkeit, und die Ma-
donna mit dem Christkinde, unnahbar ernst und feierlich in ihrem Wesen,
mit ihren großen Augen die Welt umfassend, nehmen in der Regel alles
Interesse vollständig gefangen. Doch verdienen auch die beiden Heiligen-
gestalten eingehende Betrachtung. In Geschlecht und Alter, in Ausdruck
und Bewegung einander entgegengesetzt, ergänzen sie sich gegenseitig auf das
beste und können gar nicht die eine ohne die andere Gestalt gedacht werden.
Beide müssen mit der außerhalb des Bildes gedachten Gemeinde in Zu-
sammenhang gebracht werden. Der Gnade der Madonna empsiehlt sie der
andächtig fromme Sixtus, das freudige Entzücken der Gläubigen scheint in