1918 -
Leipzig [u.a.]
: Teubner
- Autor: Kühne, Alfred, Evers, Matthias, Walz, Hermann
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1905
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
- Geschlecht (WdK): Jungen
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drängt sich ihm mehr und mehr auf, und immer häufiger werden die
Klagen über den Verfall der Zucht und Sitte. Diewärme des Gefühls und
der Empfindung wird durch das Hervorbrechen einer kühlern Betrach-
tungsweise vielfach beeinträchtigt, und in den Jubel und die Klage mischt
sich die Lehrhaftigkeit, ja selbst die spitzfindige Erörterung, Elemente, die
sich mit dem reinen lyrischen Tone des Liedes nimmer vertragen. Dieses
Vorwalten der Reflexion verleiht dem Minnesänge Walthers im allge-
meinen etwas Unlebendiges. Überhaupt war diesem vielseitigsten der alt-
deutschen Liederdichter der Kreis des Minnegesanges zu enge, er fühlte
das Bedürfnis einer umfassenden Weltanschauung; er richtete das Lied
auf die wichtigsten Angelegenheiten des Vaterlandes und der Kirche, und
bei diesen ist er mit voller Seele.
Ob auch ohne äußern Anlaß, ohne die Stürme, die an der Neige
des 12. Jahrhunderts hereinbrachen und das Reich in seinen Grundfesten
erbittern machten, Walthers Poesie diese Richtung, die ihn so sehr von
seinen Kunstgenofsen vor und nach ihm unterscheidet, jemals genommen
hätte? Schwerlich. Denn wie jeder große Dichter ist auch er ein Kind
seiner Zeit und unter ihren Einflüssen zu dein geworden, was er ist. Wäre
Heinrich Vi. ein längeres Leben beschieden gewesen und des Reiches
Macht auf dem Höhepunkt geblieben, den sie unter ihm erreicht, so ist
kaum anzunehmen, daß Walther sich von der Bahn der erotischen und
ethischen Dichtung, auf der alle übrigen Lyriker wandelten, entfernt hätte.
Jedenfalls ist es Tatsache, daß der unselige, mit Kaiser Heinrichs Tode
anhebende Wählst re it1) es war, der ihn aus seiner behaglichen Ruhe am
Wiener Hofe aufschreckte und aus seinem Geiste die ersten Funken patrio-
tischer Begeisterung schlug. Die ältesten Gedichte, deren Entstehungszeit
bestimmt werden kann, fallen, wenn nicht noch in des Kaisers Todesjahr,
doch in den Anfang des Jahres 1198. Mit diesem großen und so ver-
hängnisvollen Wendepunkte unserer Geschichte sehen wir Walthers Poesie
das politische Gebiet betreten und jene Richtung einschlagen, der er
durch volle dreißig Jahre unerschütterlich treu geblieben und von der er
bis zu seinem Tode nie auch nur um eines Fußes Breite abgewichen ist.
Über die Wahl, die er zwischen den beiden Bewerbern um die deutsche
Krone treffen sollte, war dieser klare, scharfblickende und gesinnungsvolle
Geist keinen Augenblick schwankend: mit voller Entschiedenheit wandte er
sich demjenigen zu, der burcf) seine Geburt auf die durch lange Gewohn-
heit geheiligte erbliche Nachfolge ein unbestreitbares Recht hatte und auf
dessen Seite alle standen, welche deutsch dachten und fühlten und des
Reiches Größe und Wohlfahrt über die eigenen persönlichen Interessen
stellten: Philipp von Schwaben. Noch von Wien aus erhob er seine
1) Bgl. S. 113, Nr. 60