1910 -
Straßburg
: Bull
- Autor: Dadelsen, Hans von
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1896
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
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sich wölbt, Welt gebaut ist, Winde brausen und die Wasser zur Ser
hinströmen"? Ja, bis in unsere Tage hinein klingen die alliterierenden
Formeln wie Eigen und Erbe, Friede und Freundschaft, Herz und Hand,
Haus und Hof, Haut und Haar, Land und Leute, Leib und Leben, Nacht
und Nebel, See und Sand, Wind und Wetter, als die Reste einer Zeit,
in der die Poesie zur Gefährtin des Deutschen wurde, wo irgend er seine
Seele erhebt, wo sein Gemüt sich weitet, wo sein Geist einen über-
schauenden Flug nimmt. Chorlieder begleiten die großen Momente des
Privatlebens und des öffentlichen Lebens. Ein Chorgcsang empfängt die
vermählte Braut und führt sie dem Bräutigam zu. In feierlichem
Trauerchore wird das Lob der Toten gesungen. Unter Gesang gchts zur
Schlacht und zum Opfer. Da besingen sie vor dem Kampfe den helfenden
Gott oder die Taten der Vorfahren und schöpfen Mut aus dem Ruhme
der Ahnen. Wer hat ihnen die Lieder gedichtet? In unabsehbarer Ferne
der Zeiten verliert sich ihr Ursprung, und gleiches Geheimnis deckt die Ent-
stehung der alten Heldenlieder wie der Tanzreihen, unter deren Gesang
das junge Volk im Dorfe reihenweis sich im Takte hin und her bewegte.
Wie sich beim Reihen der Vorsänger allmählich aus der Menge der
Tänzer absonderte (noch heute steht in manchem Kinderspiel ein einzelnes
der Reihe der andern gegenüber, auch eine Erinnerung aus alter Zeit),
so tritt auch aus der großen Menge der sangesfrohen Leute nach und
nach der Dichter hervor, dem die Götter die Gabe des Liedes in beson-
derem Maße gegeben haben. Noch wagt er es nicht, von den Empfin-
dungen der eignen Brust zu reden. Im tiefen Herzen bleibt es verschlossen,
was ihn als einzelnen angeht, aber das, was alle bewegt, die Großtaten
der Vorfahren, ihr leuchtendes Beispiel, ihr Sieg und Tod in rühmlicher
Schlacht, das drängt sich ihm über die Lippen, und so wird die
erzählende, die epische Dichtung die älteste Tochter jener urwüchsig
schaffenden Volkspoesie. An Stoff fehlte cs ihr nicht. Jeder Stamm
hatte seine eignen Helden, seine eignen Sagen, und wenn im Norden das
schön geglättete Ruderschiff, das Meerroß, aus dem die Sachsen über die
wogende See dahinritten, im Mittelpunkt all der Lieder von Sceranb,
von kühnen Plünderzügen, von Wanderfahrten der Helden stand, wenn
dort das Leben des ewigen Meeres die schöpferische Phantasie des Sängers
befruchtete, so war es im südlichen Binnenlande das Geheimnis des
Waldes, über dessen Wipfel Altvater Wodan im brausenden Zuge der
Seinen dahinfuhr, aus dem immer ueue Gesänge hervorquollen. Noch
lebten die alten Götter. Vielfach verflochten sich ihre Geschicke mit denen
der menschlichen Helden, und wie Gottesdienst berührte es die streitbaren
Männer, wenn das Lied von der Ahnen hohen Taten sie zurückführte zu
dem übermächtigen Walten der Unsichtbaren. So schmiegte sich die epische
Dichtung dem epischen Zeitalter der deutschen Völker an, und sie begleitet