1910 -
Straßburg
: Bull
- Autor: Dadelsen, Hans von
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1896
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
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bezeugen, vielseitiges Talent, ausgebreitete Gelehrsamkeit und scharf
ausgeprägte Eigenart des Charakters. Er war nicht nur belesen
wie Hans Sachs, sondern fast in allen Wissenschaften wohl bewandert
und beherrschte den außerordentlichen Reichtum seiner Kenntnisse mit der
größten Leichtigkeit und Sicherheit. In lateinischer Sprache schrieb er
ein Buch über die älteste Geschichte Straßburgs, seinem Berufe nach war
er Rechtsgelehrter, und mustern wir seine polemischen Schriften, so tritt
uns eine solche Fülle theologischer Kenntnisse entgegen, daß man meinen
könnte, er sei von Haus aus Theologe gewesen. All dieses Wissen stellt
er aber nicht in den Dienst der forschenden Wissenschaft; sein Streben
ging vielmehr dahin, auf die breiten Massen des Volkes zu wirken und
sie durch seine Schriften in den Kampf hineinzuziehen, den er sein
ganzes Leben hindurch kämpfte für die Freiheit des Menschen in religiöser
wie in politischer Beziehung, wie er es selbst sagt: „Freiheitblum ist die
schönste Blum: Gott lasse diese werte Blum in Deutschland blühen um
und um, so wächst denn Fried, Freud, Ruh und Ruhm." Sein poetisches
Talent, die ihm angeborne heitere Laune, sein unerschöpflicher Witz, der
ihn das Schlechte zugleich von seiner lächerlichen Seite sehen ließ,
führten ihn von selbst auf die Satire als auf die Form, die er nach
seinem innersten Wesen für seine Bestrebungen wählen mußte, und die
er in hoher Meisterschaft handhabte. Er fand in dem französischen Buche
des lustigen Ours von Mendon, in dem Gargantua des Rabelais, das
Vorbild, welches ihm für seine eignen Produkte den Stofs und die
Anregung bot. In seinen: Gargantua hat er das erste Buch des
berühmten Rabelaisschen Romans nicht so sehr übersetzt als aufgeschwellt,
indem er Rabelais' eigne Manier überbot und dadurch allerdings das
epische Interesse stark abschwächte, aber das satirische im höchsten Grade
befriedigte, wenn man die erdrückende Masse von komischen Anspielungen,
Zwischenstücken, Wortspielen, Reimklängen, Wortverdrehnngen, eine Menge
von Sprichwörtern, volkstümlichen Redensarten, Anführungen aus
Volksliedern, gehäuften Bezeichnungen gleicher oder ähnlicher Bedeutung
für jedes Ding und jeden Begriff, Notizen über Spiele, Speisen,
Getränke, Sitten, Zustände, Anekdoten — wenn man diese ganze Masse,
worin die schon bei Luther beliebte rhetorische Form der Häufung beinahe
zum eiuzigen und zum durchgehenden künstlerischen Grundsatz erhoben
worden ist, noch Satire nennen will. Es ist im Unterschiede von der
Form der älteren Satiriker wie Braut und Murner ein Beispiel der
grotesken Satire, die von Fischart zum erstenmal in größerem Umfang
in die deutsche Literatur eingeführt wird. Das Wort bedarf der
Erklärung; es verdankt seinen Ursprung den Ausgrabungen in den Bädern
des Diokletian in Rom, in den Grotten, wie diese großartigen Gewölbe
von den damaligen Römern genannt wurden. Dort stellten sich dem