1910 -
Straßburg
: Bull
- Autor: Dadelsen, Hans von
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1896
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
209
die fortdauernde Stärke der nationalen Strömung nach dem Sieben-
jährigen Kriege bezeugten. Noch immer war diese Strömung mit der
Abneigung gegen die französische und mit einer gewissen Anlehnung an
die englische Literatur verbunden. Sie wurde rascher und brausender
und schwoll bedenklich über die Ufer. Die Tendenzen Klopstocks und
Lessings erschienen gesteigert, übertrieben und mit neuen Impulsen ver-
mischt. Die Reformbcwegung verwandelte sich in eine Revolution, welche
eine Zeitlang die ganze Jugend erregte. Sie war national und volks-
tümlich. Sie ward unternommen im Geiste Rousscaus gegen den Geist
Voltaires, im Namen der Natur gegen die Kultur, im Namen der
Leidenschaft gegen den Verstand, im Namen der Geschichte gegen das
konstruierte Ideal, im Namen des Glaubens gegen den Zweifel, im
Namen des Genies gegen die ästhetische Regel. Goethes Götz war die
eigentlich revolutionäre Tat, die am meisten in die Augen fiel. Aber
die Blätter von deutscher Art und Kunst gingen ihr vorher wie ein
Programm, wie ein Manifest.
Auch Herder opponierte gegen den Geist seines Jahrhunderts; auch
er wurde von der historischen Auffassung beherrscht; will man all sein
Denken und Dichten in eins fassen, so muß es heißen: Geschichte des
menschlichen Geistes. Wunderlich sind die Wege, die ihn auf die Höhe
führten. Der Sohn eines armen ostpreußischcn Schullehrers dient er
dem Geistlichen des Orts und darf dessen Bücher benutzen; ein russischer
Regimentschirurg nimmt ihn mit nach Königsberg, und unter den härtesten
Entbehrungen studiert er dort anfänglich Medizin, dann Theologie. Durch
Unterrichtgeben verdient er sich seinen Lebensunterhalt, die Not vermag
nichts über den feurigen Willen des Jünglings, der als Schüler zu
Kants Füßen sitzt und Studiengenosse des merkwürdigen Hamann wird.
Als Lehrer und Prediger wird der 20jährige nach Riga berufen, und von
dort aus tritt er zuerst als Schriftsteller auf. Die „Fragmente zur
deutschen Literatur" und die „Kritischen Wälder" bezeichnen den Anfang
einer überaus reichen literarischen Tätigkeit. Nach einer nur vierjährigen
Tätigkeit in Riga legt er seine Ämter nieder und geht auf Reisen. Ein
Aufenthalt in Paris, bei dem er in die Kreise Diderots und der Enzy-
klopädisten eintrat, bestärkt ihn in seiner Abneigung gegen die Franzosen.
Als Begleiter eines deutschen Prinzen soll er Italien, die Welt sehen,
aber schon in Straßburg bleibt er zurück, um sich von einem Augenübcl
heilen zu lassen, und hier trat er in Beziehungen zu dem Straßburger
Studenten Goethe, die für beide so bedeutungsvoll wurden. Hier entstand
seine Abhandlung über den Ursprung der Sprache, die ihm den Preis
der Berliner Akademie erwarb, hier begannen die Studien über Ossian
und Shakespeare, mit denen er nicht bloß Goethe, sondern eine ganze
Generation von Dichtern beeinflußte. Ein sicherer Hafen eröffnete sich
14