1883 -
Dresden
: Bleyl & Kaemmerer
- Autor: Bliedner, A.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
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131. Über die romantische Poesie.
Von Vil mar.
Gesch. der deutschen Nationallitteratur. 14. Aufl. Marburg u. Leipzig 1871
S. 546.
Die Zeit der höchsten Blüte Goethes und Schillers rief in ihren
Umgehungen, in Weimar und Jena, ein so belebtes, aufgeregtes und
wahrhaft geniales Zusammensein der verschiedensten Geister hervor, wie
nach Schillers eigner Bemerkung ein solches vielleicht in Jahrhunderten
nicht wiederkehrt: die Poesie drang mit Macht in die Wissenschaft, in
die bildende Kunst, in das Leben. Von der Vermischung der Poesie
mit dem Leben, welche damals in Weimar und besonders in Jena statt-
fand, wird uns allerdings nichts Rühmliches berichtet — noch weniger
Rühmliches, als der Minnesänger Ulrich von Lichtenstein unter fast
gleichen Umständen von sich selbst erzählt; es war aber doch der Ge-
danke lebendig geworden, es müsse die Poesie wieder aus den Büchern,
aus der Papierwelt hinaus in die wirkliche Welt strömen, sich in
den Verkehr des Lebens mischen, die Gesellschaft durchdringen und
sie von allem Niedrigen, Gemeinen, Philisterhaften säubern — es musste
dieser Gedanke da lebendig werden, wo das Leben schon wirklich zur
Poesie geworden war, wo der seltenste Verein einer grossen Zahl geistig
bedeutender, wissenschaftlich hochstehender, dichterisch begabter Männer
in ihren frischen Jugendjahren auf einem verhältnismässig so engen
Raume zusammengedrängt war, in Jena, wo zu gleicher Zeit Reinhold
und Fichte, Schelling und Hegel, Woltmann, Thibaut und Hufeland, Voss,
die beiden Humboldt und die beiden Schlegel, Steffens und Brentano —
und wer nennt und zählt die Namen alle — lehrend und lernend, an-
regend und strebend, sich zusammengefunden hatten. Und dieser Ge-
danke, die Einheit der Poesie mit dem Leben zu begreifen, zu verkün-
digen, herzustellen — dieser Gedanke ist in der That einer der allge-
meinsten Grundgedanken der neuen Schule, die bald, und zumeist von
ihren Gegnern, die romantische Schule genannt wurde, ein Gedanke,
welcher mit der zu gleicher Zeit emporblühenden Naturphilosophie auf
das genauste verwandt war. Der Dichter wurde gleichsam zur höchsten
Potenz, gleichsam zum Ideal der Zeit gemacht — alle die mannigfaltigen
Erscheinungen des Lebens, der Kunst, der Wissenschaft sollte er in sich
aufnehmen, in sich sammeln und in der reinsten Gestalt aus dem eignen
Ich widerstrahlen lassen — ein Satz, gegen den schwerlich viel einzu-
wenden sein wird, und der nur an Herder, Goethe und Schiller, vor allen
an Goethe, gelernt werden konnte. Aus diesem Gedanken der Einheit
der Poesie und des Lebens erklärt sich am ungezwungensten und ein-
fachsten, erklärt sich fast notwendig, wie diese neue Schule so eines
Sinnes Mem Mittelalter ihre Liebe zuwandte: mit Recht pries sie die
Zeit des Volksepos und der Minnesänger des 13. Jahrhunderts als eine
solche, in welcher ihr Ideal, wenn nicht ganz und gar, wenigstens in bei
weitem höherem Grade verwirklicht war als in der Zeit, in welcher sie
lebte, und in welcher wir leben; hier eine dem toten Papiere angehörende,