1883 -
Dresden
: Bleyl & Kaemmerer
- Autor: Bliedner, A.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
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mutige Rede. ' So sei es denn alles gesagt, was ich auf dem Herzen
habe; vielleicht zündet ein Funke Wahrheit in Ihrer Seele; — ja, in
innere Empörung geriet ich über mein Schicksal und das Schicksal
meines Vaterlandes. Ich fühlte mich gemisshandelt Tag und Nacht bis
in die innerste Seele hinein. Das Ideal eines Volksredners ward mir
spöttisch entrissen; denn in der Karlsschule, hiess es, giebt es kein Volk
und keine Gottesgelehrsamkeit. Willst du aufgenommen sein, so werde
Jurist oder Mediziner. Ich war arm, die Aufnahme galt uns für die
grösste Wohlthat, besonders weil ich nur bürgerlicher Herkunft war.
Ich musste die Hand küssen, welche mir die ersehnte Zukunft entzog;
ich ward Jurist und verwand mit Schmerzen diesen ersten Ruck, der
meinen tiefsten Wünschen angethan wurde. Aber ich war nicht nur
arm, ich war auch ein ungewandter und nun vollends eingeschüchterter
Knabe, der wegen seines linkischen Wesens fortwährend gescholten und
gestraft wurde. War das meine Schuld? Warum gab die Natur gerade
mir ein ungestüm inneres und ein so trag nachhinkendes äusseres
Wesen? So ward meine Jugend ein fortdauerndes Leiden, und als ich
mich endlich mühsam in die aufgedrungene Bahn gefunden, da hiess es
wiederum: ,Halt! Kein Jurist! Mediziner soll der Bursche werden, das
passt besser für den armen Teufel/ Und zum zweitenmale gewaltsam
wurde der Ruck meines Inneren erzwungen, oh auch alle Fugen in mir
krachten und schmerzten. ,Was da!4 hiess es, ,der Mensch ist eine Ma-
schine, man dreht sie und stellt sie und zwingt sie in Gang/ ,Der
Mensch ist keine Maschine!4 schrie es auf in meiner Brust, und
schrie es so lange, bis wir alle wussten, solche Erziehung sei Misshand-
lung, bis wir alle fest entschlossen waren, uns aufzulehnen. War’s nun
ein Wunder, dass die verschrobene Seele krampfhaft hineingerissen wurde
in wilde Phantasien; war’s nun ein Wunder, dass wir Ideale ausbrüteten
von ungetümer Natur?! Die Seele braucht Speise und Trank wie der
Leib; das Ideal ist ihr Speise und Trank. Konnte unser Ideal dem
Herrn der Karlsschule wohlgefällig werden? Vor unseren Augen war
Kampf und Gewalt gegen die Vertreter des Landes, vor unseren
Augen war Verhöhnung des Freiheitsgedankens, welcher jenseits des
Meeres schmetternde Siege erfocht, vor unseren Augen Verhöhnung
deutschen Dranges nach eigener Litteratur und Kunst, vor unseren Augen
allüberall Druck auf Hirn und Herz; musste da nicht jener entsetzliche
Zustand in uns entstehen, welcher die Augen schliesst und blind mit
dem Haupt gegen die Schranke rennt, mussten da nicht die Räuber
entstehen, welche man nun so entsetzlich findet?! Sie mussten entstehen,
und die deutsche Karlsschule ist die Mutter des Stücks, der Herzog von
Würtemberg ist der Vater desselben!
[Pause. — Es donnert.]
Herzog. Wenn du horchst, Franziska, so erfährst du, dass ich
recht gehabt, und dass er reif ist, wie ich mir gedacht. (Er geht hinten
nach dem Ausgange, als wolle er nach dem Wetter sehen, geht dann rasch
auf die zweite Thür links zu, als wolle er Rieger rufen, bleibt aber plötzlich